Christine Jahn: Bayerische katholische Kirche und Erster Weltkrieg. Der zeitgenössische klerikale Standpunkt in Publikationen und Aufzeichnungen (= Historia Altera; Bd. 5), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 287 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13274-9, EUR 54,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Im Jahr 1914 wies das Generalvikariat der Diözese Regensburg seine Mitarbeiter an, die Auswirkungen des jüngst ausgebrochenen Krieges genauestens zu dokumentieren, um "für künftige kirchengeschichtliche Arbeiten ein einwandfreies Material vorzubereiten" (140). Diesen Umstand hat sich die Historikerin Christine Jahn zu Nutze gemacht und im Jahr 2017 am Lehrstuhl für Neueste Geschichte in Bayreuth eine Dissertation vorgelegt, die der katholischen Kirche in Bayern während der Zeit des Ersten Weltkriegs gewidmet ist.
Jahn wertet in der Monographie, die im vergangenen Jahr im Druck erschienenen ist, vor allem die diözesanen Amtsblätter und Kirchenzeitungen aus. Hinzu kommt eine beachtliche Menge weiterer Archivalien und Quellen, etwa die Tagebücher des Münchner Erzbischofs Michael von Faulhaber sowie überdiözesane Periodika. Von dieser Quellenauswahl erhofft sich die Autorin, eine religiöse Perspektive auf den Krieg sowie mögliche Differenzen zwischen den verschiedenen Bistümern und womöglich auch zwischen episkopaler und klerikaler Ebene herausarbeiten zu können. Die Begrenzung des Untersuchungsgegenstands auf Bayern ergebe sich aus einer "Sonderstellung [...] der katholischen Kirche in Bayern" (15), welche "sich im Vergleich zum übrigen Reich den konfessionellen Problemen in einem deutlich gemilderten Maß ausgesetzt" (16) sah. Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich auf die Kriegsjahre. Schon der Widerhall des Zusammenbruchs des Kaiserreiches und der Revolution interessiert die Verfasserin kaum noch. Dass zwischen Einreichung der Dissertation und Drucklegung des Buches fast fünf Jahre vergangen sind, hat dazu geführt, dass manche neueren Forschungsbeiträge nicht berücksichtigt wurden [1], wobei die Monographie grundsätzlich mit der einschlägigen Sekundärliteratur ausgestattet ist.
Mit der Quellenauswahl und der Fokussierung der Untersuchung auf die Bistümer der Freisinger Bischofskonferenz ergänzt die Autorin die Forschungen über die Fuldaer Bischofskonferenz [2] und den politischen Katholizismus. [3] Die Perspektive der einfachen Gläubigen und mögliche Rückwirkungen auf den Klerus kommen aber auch in dieser Darstellung so gut wie nicht vor.
Dem Hauptteil vorangestellt sind zwei Kapitel, in denen die acht bayerischen Bistümer und deren Bischöfe vorgestellt werden. Die Autorin erhofft sich, dass diese Abschnitte "maßgeblich zur besseren Einordnung der im Hauptteil erarbeiteten Äußerungen beitragen" (17). Die Ausführungen über die Geschichte der Diözesen und zu den Bischöfen sind aber recht allgemein und zuweilen unkritisch gehalten, da sich die Autorin zumeist auf konventionelle Diözesangeschichten verlässt und auf Kontroversen höchstens in den Fußnoten verweist. Der Erkenntnisgewinn für den Hauptteil fällt daher auch eher gering aus.
Ein weiteres Kapitel ist der Situation der bayerischen katholischen Kirche in Bayern im Jahr 1914 gewidmet und ähnlich dünn wie die beiden ersten. Das erklärt sich neben dem stark regionalen Zuschnitt daraus, dass es allein der erkenntnisleitenden These dient, wonach die Autorin dem Katholizismus ähnlich wie Thomas Nipperdey ein Kompensationsbedürfnis [4] unterstellt, um sich von seiner Minderheitenstellung im Kaiserreich zu emanzipieren. Der Widerspruch zwischen der dominanten Stellung der katholischen Kirche in Bayern und der angeblichen Inferiorität im Reich bleibt dabei unaufgelöst. Der "Quellenauswertung" genannte Hauptteil ist in elf thematische Unterkapitel gegliedert, die nach Jahn "ein möglichst breit aufgestelltes Meinungsbild der katholischen Kirche" darstellen sollen (17). Hierzu gehören beispielsweise "Patriotismus und Nationalismus", "Kriegsschuld und 'gerechter Krieg'" sowie "Wiederbelebung des Glaubens". Das sind alles bekannte Topoi der Forschung zum Katholizismus im Ersten Weltkrieg, daher wäre eine von der Autorin angedachte, aber leider nicht erfolgte Weitung in Richtung Rollenbild der Frau oder Ökumene durchaus wünschenswert gewesen.
Aus den untersuchten Quellen, die mal im Haupttext, mal in den Fußnoten diskutiert werden, ergibt sich für Christine Jahn das Bild einer Kirche, welche "hinsichtlich ihrer Glaubensinhalte und Morallehre versagt" (196) habe, aber "schlicht und ergreifend ein Kind ihrer Zeit" gewesen sei. Jahn erklärt dies mit einer bellizistischen Grundhaltung, welche auf das Kompensationsbedürfnis und weitere religiöse Motive - wie Hoffnung auf sittliche Erneuerung - zurückzuführen ist. Zwar seien die Repräsentanten der Kirche auch "zu einem differenzierten Diskurs fähig" (202) gewesen, allerdings dominieren in der ausführlichen und gründlichen Quellenauswertung diejenigen Stimmen, die den Krieg über seine gesamte Dauer hinweg legitimierten, eine starke Identifikation mit Monarchen und Staat propagierten und zuweilen nicht davor zurückschreckten, den Feindeshass theologisch zu rechtfertigen. Aufgrund der Quellenlage kann die Autorin nachweisen, dass die Ortsgeistlichen die kriegsbefürwortende Haltung ihrer Bischöfe an die Gläubigen weitergaben. Dies war in allen untersuchten Diözesen der Fall, auch wenn einzelne Diözesen (Speyer) radikaler als andere (Eichstätt) waren.
Warum die Tonlage in Speyer eine andere gewesen war als etwa in Eichstätt, erklärt die Autorin nicht. Ohnehin gelingt es ihr nicht, die in der Quellenauswertung gewonnenen Erkenntnisse an die bisherigen Forschungsergebnisse rückzubinden. Hat etwa die angeblich zurückhaltendere Position Eichstätts etwas mit der im biographischen Kapitel angeführten Askese seines Bischofs Leo von Mergel zu tun oder einfach damit, dass Eichstätt keine Kirchenzeitung hatte, in welcher der Klerus sich bellizistisch hätte äußern können? Wie ist es zu erklären, dass der Kriegsbeginn im bayerischen Klerus und Episkopat laut Christine Jahn fast ausnahmslos positiv aufgefasst wurde, während die Stimmung in der Fuldaer Bischofskonferenz zurückhaltender ausfiel? [5] Und vor allem: Wie konnte es sein, dass das Kompensationsbedürfnis gerade in Bayern so stark war, wo die Lage der katholischen Kirche weniger prekär war als im Rest des Reiches? Die Kompensationsthese scheint zwar in den Quellen immer wieder durch, eine wirkliche Einordnung erfolgt aber eben nicht. Dadurch, dass die Quellen nur die Innenansicht der bayerischen katholischen Kirche wiedergeben, bleibt fraglich, wie stark sie beispielsweise in den Loyalitätskonflikten gegenüber dem Vatikan oder Katholiken anderer Länder vertreten wurde. Auch das Verhältnis zur Fuldaer Bischofskonferenz, zum Vatikan und zu den Episkopaten anderer Länder wie Belgien oder Frankreich bleibt leider vollkommen im Dunkeln.
Aufgrund der fehlenden Kontextualisierung und Einordnung kann die Monographie letztlich nicht mit neuen Erkenntnissen über die katholische Kirche in Bayern zwischen 1914 und 1918 aufwarten. Allerdings darf das Buch nicht zuletzt auch dank einiger im Anhang gedruckten Quellen als guter Einstieg in das Themengebiet gelten.
Anmerkungen:
[1] Beispielsweise zur Einordnung Kardinal Faulhabers unberücksichtigt: Dominik Schindler: Der Kairos im Chronos der Geschichtlichkeit. Michael Faulhaber als Bischof von Speyer (1911-1917), Stuttgart 2018.
[2] Hermann-Josef Scheidgen: Deutsche Bischöfe im Ersten Weltkrieg. Die Mitglieder der Fuldaer Bischofskonferenz und ihre Ordinariate 1914-1918, Köln u.a. 1991 (= Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 18).
[3] Manfred Koch: Die Zentrumsfraktion des Deutschen Reichstages im Ersten Weltkrieg. Zur Struktur, Politik und Funktion der Zentrumspartei im Wandlungsprozess des deutschen Konstitutionalismus 1914-1918, Mannheim 1984.
[4] Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München 1988, 50.
[5] Vgl. Hermann-Josef Scheidgen: Deutsche Bischöfe im Ersten Weltkrieg. Die Mitglieder der Fuldaer Bischofskonferenz und ihre Ordinariate 1914-1918, Köln u.a. 1991 (= Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 18), 60.
Tilman Deckers