Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt. Ein Atlas, München: C.H.Beck 2022, 639 S., zahlr. Kt. und Abb., ISBN 978-3-406-77345-7, EUR 39,95
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Silke Förschler / Anne Mariss (Hgg.): Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017
Nora Schmidt / Nikolas Pissis / Gyburg Uhlmann (Hgg.): Wissensoikonomien. Ordnung und Transgression vormoderner Kulturen, Wiesbaden: Harrassowitz 2021
Vadim Oswalt: Weltkarten - Weltbilder. Zehn Schlüsseldokumente der Globalgeschichte, Stuttgart: Reclam 2015
Die Grundidee des vorliegenden Werks ist es, die großen Linien der Globalgeschichte der Menschheit vom Neolithikum bis zur Gegenwart - die französische Originalausgabe erschien 2019 [1] - vorzulegen. Die Einleitung stellt dabei hohe Ziele auf: Die Emanzipation von traditionellen eurozentrischen Sehgewohnheiten und Darstellungsmustern wird ebenso angestrebt wie ein nichtlineares Lesekonzept. Auch hinsichtlich der Darstellung auf den Karten selbst setzt man sich zum Ziel, lieber weniger Informationen anzubieten als mehr, um Zusammenhänge klar sichtbar zu machen. An diesen beiden inhaltlichen Ansprüchen für das Gesamtkonzept wie für die jeweiligen Einzelkarten muss sich der Band also messen lassen.
Da Atlanten als Nachschlagewerke nicht für das serielle Lesen konzipiert sind, empfiehlt es sich, dafür bei den Einzelkarten zu beginnen. Das Buch ist qualitativ hochwertig aufgemacht und gut ausgestattet. Es hat in dieser Hinsicht nur einen Nachteil: Die Bindung ist relativ straff, so dass der Band nicht glatt fällt, wenn man ihn aufschlägt. Da viele Karten wegen des für einen Atlas eher kleinen Formats eine Doppelseite beanspruchen, gibt es in der Mitte solcher Karten einen deutlich hervortretenden Falz, in dem manches untergeht. Grafisch sind die Karten gut gestaltet und schön gedruckt. Es wird auch durch den ganzen Atlas hindurch ein klarer Stilwille erkennbar, der sich um Reduktion und Fokussierung bemüht. Das gelingt stellenweise sehr gut, an anderen Stellen eher weniger. Die Vorliebe für flächige Farben und starke Kontraste ist immer dann hinderlich, wenn komplizierte oder uneindeutige Gemengelagen visualisiert werden müssten. An solchen Stellen wird - gerade in Bezug auf Herrschaftsverhältnisse - Eindeutigkeit suggeriert, die so nicht bestand.
Inhaltlich sind nicht alle Karten mit der gleichen Sorgfalt gestaltet. Mal sind zwischen Legende und Karte die Symbole vertauscht (Mayastädte, 29), mal sind die Zugehörigkeiten zum Heiligen Römischen Reich falsch markiert (302, habsburgische Niederlande, Franche Comté), mal wird ein Ereignis auf zwei kurz hintereinander folgenden Karten verschieden eingezeichnet (Schlacht von Tannenberg, 440/41 und 447), es wird dasselbe Gebiet auf einer Seite unterschiedlich dargestellt (585, Ausdehnung des IS), es verschwinden wichtige Elemente der Darstellung im Falz (544, Hongkong und Macao als an China zurückgegebene Städte), Dinge werden falsch benannt (die römische Zentralkirche des Jesuitenordens, Il Gesù, als "Jegesù", 311) oder es fehlen wichtige Informationen (Vertrag von Saragossa 1529 als Regelung der östlichen Demarkation zum Vertrag von Tordesillas, 246/247). Manche Begriffe werden sehr sorglos verwendet, so sind "kommunistisch" und "sozialistisch" hier offensichtlich synonym gedacht und werden ohne erkennbares System abwechselnd gebraucht (525, 528, 555, 558/59). Solche Inkonsistenzen und Ungenauigkeiten treten mit irritierender Häufigkeit auf und untergraben das Vertrauen ins Dargestellte. Sollte damit beabsichtigt gewesen sein, der kartographischen Illusion, das Abgebildete entspräche der Realität, wirksam entgegenzutreten, so wäre das gelungen. Es passt aber nicht zum Konzept des Atlas'.
Die deutsche Übersetzung lässt an einigen Stellen zu wünschen übrig: So ist die Karte des Alexanderreichs mit "Die Eroberungen von Alexander dem Großen" überschrieben (70/71), statt den Genitiv zu nutzen, ebenso "Das Reich von Justinian" (96/97). Die in "Die Domestizierung von Pflanzen und Tieren" mit "bronzezeitliches Verbreitungsgebiet -1250" überschriebene Linie soll wohl den Raum bezeichnen, innerhalb dessen im 13. Jahrhundert vor der Zeitrechnung Bronze genutzt wurde, ist aber missverständlich formuliert (20/21). Während solche Schnitzer zwar ärgerlich, aber lediglich unschön sind, ist eine Formulierung wie "der persische Erbfeind" in der Karte des byzantinischen Reichs des 6. Jahrhunderts mehr als fragwürdig (96).
Besonders ungünstig sind Karten, in denen mehrere dieser Probleme zusammentreffen. Exemplarisch sei ein solches Beispiel beschrieben, die Karte "Das Osmanische Reich (14. - 18. Jahrhundert)" (144/45). Darauf verschwindet Bursa als erste Hauptstadt des Reiches in dem Falz, Istanbul beinahe ebenfalls. Auf der Karte werden neben den territorialen Zugewinnen des Reiches wichtige Siege und Niederlagen visualisiert. Die Verluste des 18. Jahrhunderts sind, dem Kartentitel zum Trotz, nicht sichtbar, dafür wird auf eine weitere Karte verwiesen ("Erster Rückzug der Osmanen (1683-1830)"). Die beiden Belagerungen Wiens, obwohl vermerkt, sind nicht als osmanische Niederlagen eingezeichnet - auch wenn es in der Legende heißt: "scheitert aber 1529 bei dem Versuch, Wien einzunehmen" (145). Die Seeschlacht bei Diu im Indischen Ozean 1509, in der eine ägyptisch-osmanische Flotte der portugiesischen Indienflotte unterlag, fehlt dagegen völlig. Dabei war Diu von seinen Konsequenzen her weitreichender als die ungleich bekanntere Schlacht von Lepanto, die eingezeichnet ist. Dafür wird Lepanto im Legendentext als ausschlaggebend für den "Verlust der Seeherrschaft im östlichen Mittelmeer" bezeichnet (145), was faktisch falsch ist. Das wesentliche Ergebnis von Lepanto war, dass ein weiteres Vordringen der Osmanen ins westliche Mittelmeer unterblieb. Auf der ergänzenden Karte zum "ersten Rückzug der Osmanen" (284) fällt Algerien laut Legende unter die "[t]erritoriale[n] Verluste des Reichs zwischen 1806 und 1830". Die Karte zur französischen Kolonisation Algeriens (360) macht aber sehr viel differenzierter deutlich, dass Frankreich 1830 lediglich die Stadt Algier besetzte und die tatsächliche Eroberung des Landes mehrere Jahrzehnte dauerte. Vom nicht so leicht definierbaren Status der Zugehörigkeit Algeriens zum Osmanischen Reich sprechen beide Karten nicht.
Grundsätzlich werden die Einzelkarten besser, je näher sie an die Gegenwart heranrücken, besonders ab dem 19. Jahrhundert, aber nicht fehlerfrei.
Was ist aber auf der übergreifenden Ebene mit dem großen und mit sympathischer Verve vorgetragenen Konzept, westliche Gewohnheiten über Bord zu werfen und vor allem die Vernetzung der Welt über den historischen Verlauf ins Zentrum zu rücken? Hier bleibt der Atlas, allen Bemühungen zum Trotz, doch einem sehr traditionellen Bild der Weltgeschichte verhaftet. Trotz der Aufnahme auch anderer thematischer Karten werden hauptsächlich politische und militärische Verhältnisse dargestellt, Geschichte ist wesentlich Krieg und Eroberung, Aufstieg und Fall der großen Reiche. Der Blick des Atlas ruht fest auf Europa, wie bereits aus dem einführenden Schema deutlich wird. Das wird abgeleitet aus der Leitkategorie der Vernetzung. Europa wird als der Kontinent, der die Welt im Zug der europäischen Expansion, des Kolonialismus und Imperialismus vernetzte, ob sie wollte oder nicht, dementsprechend stark in den Fokus gerückt.
Das spiegelt sich in vielerlei Hinsicht - die oben erwähnte Thematisierung von Lepanto, aber nicht von Diu wäre nur ein Beispiel dafür. Dem Christentum wird deutlich mehr Raum gewidmet als allen anderen Religionen einschließlich des Islams. Die Reisen des Kolumbus werden deutlich differenzierter dargestellt als die des Zheng He (244). Die für die heutige Gestalt der USA wesentliche "Mexican Cession" von 1848 wird nicht gezeigt, dafür aber die europäischen Kolonialreiche in Nordamerika sehr detailliert. Die deutsche Vorstellung vom Lebensraum im Osten während des Zweiten Weltkriegs wird visualisiert, die japanische von der großostasiatischen Wohlstandssphäre dagegen nicht. Während sich all diese Einzelentscheidungen jeweils diskutieren lassen, ist rein zahlenmäßig jedoch rasch klar, dass das Übergewicht auf Europa liegt. Von den 117 Seiten des 5. Kapitels, "Gesellschaften der Alten Welt. 7. bis 15. Jahrhundert" ist nur eine einzige Afrika gewidmet (220), aber allein dreizehn Frankreich (180-192). Generell ist die stark auf französische Vorlieben abstellende Auswahl der Themen unverkennbar.
Die thematisch eher europäische und historiografisch eher traditionelle Auswahl spiegelt sich auch in der eher knappen Liste der verwendeten Literatur, die - wenig verwunderlich - einerseits einen starken französischen Schwerpunkt setzt und andererseits Werke wie Fernand Braudel, Immanuel Wallerstein und Jared Diamond aufführt. Eine eher strukturell orientierte und tendenziell geodeterministische Herangehensweise liegt auch daher nahe. Auch wenn die Anordnung der Karten und die Rahmung durch die Einleitung dem vorbeugen sollten, bleibt die implizite Grundthese dieses Atlas wohl die, dass an der "Weltherrschaft des Westens" (Kap. 12) kein Weg vorbeiführte. Alle anderen Entwicklungen sind peripher, oder münden in Sackgassen. Das Buch verschenkt damit leider viel Potential, denn das Konzept ist, so wie es die Einleitung skizziert, gut und wünschenswert. Es findet sich nur leider in den Karten nur stellenweise wieder. Als Einstieg ist der Atlas gut geeignet, auch zum Entdecken sonst eher selten visualisierter Themen beim Durchblättern. Als eigentlich wissenschaftliches Werk eignet er sich aber nicht, und auch für Studierende ist er nur unter Vorbehalt zu empfehlen. Es handelt sich vor allem um ein Coffee Table Book: Hübsch aufgemacht und schön anzuschauen. Und so sollte es auch bewertet werden.
Anmerkung:
[1] Die Karte "Mauern seit 1900" führt den Grenzzaun zwischen Polen und Belarus mit Baujahr 2022 auf (594/95); es ist nicht ersichtlich, ob es sich dabei um einen Nachtrag oder eine Vordatierung handelt. Der Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist allerdings korrekt auf den 24.02.2022 datiert (573).
Tobias Winnerling