Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt. Ein Atlas, München: C.H.Beck 2022, 639 S., zahlr. Kt. und Abb., ISBN 978-3-406-77345-7, EUR 39,95
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Karten modellieren Informationen über die Welt und bieten so einen räumlichen Eindruck über Beziehungen, Abhängigkeiten, Entfernungen, Verteilungen oder Standorte. Je nach Zweck können diese Visualisierungen Überblick geben oder der Orientierung, Navigation oder Information dienen. So harmlos das klingt, so wirkungsvoll und mächtig können Karten sein, indem sie Raumvorstellungen produzieren und stabilisieren sowie dadurch auch Entscheidungsprozesse beeinflussen.
Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung eines neuen Atlas, noch dazu eines Geschichtsatlas, ein spannendes Unterfangen, bei dem die Reflexion kritischer Perspektiven mit der notwendigen Pragmatik von Entscheidungen für die Auswahl bestimmter Themen, Raumausschnitte oder Projektionen einhergehen muss. Ob ein solcher Atlas "dem 21. Jahrhundert gerecht wird" (8), hängt dabei wesentlich von der Konzeption und Umsetzung ab. Jede der notwendigen Entscheidungen im Atlasproduktionsprozess soll dazu führen, dass am Ende ein in sich konsistentes Werk vorliegt, das möglichst zahlreiche Leserinnen und Leser findet. Damit ist aber auch klar, dass nicht jeder mit allem einverstanden sein kann und muss.
Als historisch interessierte Kartographin habe ich den vorliegenden, mit 640 Seiten prall gefüllten Atlas aus der französischen Kartentradition von Christian Grataloup mit Freude in die Hand genommen. Beim ersten Durchblättern fällt die sehr ansprechende Farbgestaltung der Karten ins Auge, die Lust auf tieferes Eintauchen macht. Eine Inhaltsübersicht mit Bezug zum Daumenregister auf dem Vor- und Nachsatz erleichtert die Orientierung im Buch. Vor meinem disziplinären Hintergrund wird sich die Rezension vorrangig auf Aspekte der Karten- und Atlasgestaltung sowie damit verbundener Fragen von Raumvorstellungen konzentrieren.
Einleitend beschreibt Patrick Boucheron knapp, wie in der französischen Zeitschrift "L'Historie" "Raum erzählt" wird. Der Herausgeber des Bandes informiert über die Herstellung eines Atlas. Entscheidungen zur Konzeption und zum Aufbau des Atlas werden eingeordnet und erläutert. Dazu gehören auch Beschränkungen des Publikationsmediums, denn "[t]rotz der zahlreichen möglichen Lesarten zwingt uns die Buchform durch ihre Seitenerzählung die Entscheidung für eine bestimmte Abfolge gewissermaßen auf" (9). Durch ein Verweissystem auf verwandte Themen auf jeder ungeraden Seite des Buches wird dieser Zwang produktiv genutzt und die Leser:innen eingeladen, sich im und durch den Atlas treiben zu lassen. Diese Art des Entdeckens und Erkundens ergänzt auf sinnvolle Weise die bekannten Formen des linearen Lesens von Anfang bis Ende und jene des Suchens über Inhaltsverzeichnis oder Register.
Der eigentliche Atlas gliedert sich in 13 Kapitel mit mehr als 500 Karten, wobei bis auf die Doppelseiten mit den Kapitelüberschriften alle Seiten ca. 80 Prozent Kartenanteil und 20 Prozent Textanteil aufweisen. Jedes Kartenthema wird durch einen kurzen erläuternden und einordnenden Text begleitet, der mittels einer recht dominanten Balken-Linien-Struktur von der Karte abgegrenzt wird, teilweise jedoch mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Weitere Visualisierungsformen werden nur recht sparsam genutzt: Neben dem Schema in der Einführung finden sich im gesamten Atlas lediglich neun Diagramme (340, 373), Stammbäume (155) und Flächenkartogramme (schematisierte Darstellung von Territorien: 112). Es wäre wünschenswert andere Formen der Raumvisualisierung in größerer Zahl zu nutzen, um Kartenaussagen besser reflektieren und einordnen zu können.
Die einzelnen Kapitel folgen sowohl einem skalaren als auch einem chronologischen Konzept (9): Kapitel 1: Eine einzige Menschheit mit zehn Karten auf zehn Seiten; Kapitel 2: Weitgehend autonome Zivilisationen mit neun Karten auf acht Seiten; Kapitel 3: Vernetzungen der Alten Welt: Vom Neolithikum bis zum 15. Jahrhundert (23 Karten auf 24 Seiten); Kapitel 4: Gesellschaften der Alten Welt: bis zum 7. Jahrhundert (43 Karten auf 42 Seiten); Kapitel 5: Gesellschaften der Alten Welt: 7. bis 15. Jahrhundert (116 Karten auf ebenso vielen Seiten); Kapitel 6: Die Welt im 15. Jahrhundert (13 Karten auf 18 Seiten); Kapitel 7: Die Europäisierung der Welt: 16. bis 18. Jahrhundert (33 Karten auf 42 Seiten); Kapitel 8: Europa: 16. bis 18. Jahrhundert (46 Karten auf 46 Seiten); Kapitel 9: Die europäisch dominierte Welt: vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1914 (35 Karten auf 34 Seiten); Kapitel 10: Die nicht-europäischen Mächte: Ende 18. bis 19. Jahrhundert (20 Karten auf 22 Seiten); Kapitel 11: Europa: 1789-1914 (35 Karten auf 40 Seiten); Kapitel 12: Die Weltherrschaft des Westens: 1914-1989 (112 Karten auf 124 Seiten) und Kapitel 13: Die Welt seit 1989 (35 Karten auf 38 Seiten).
Insgesamt gibt es im Schnitt etwas weniger als eine Karte pro Buchseite. Zahlreiche Karten mussten aufgrund des für einen Atlas recht kleinen Publikationsformats von 17,5 x 24,5 cm auf einer Doppelseite platziert werden. Wegen fehlender Druckzugaben im Bund verschwinden dadurch leider teilweise Informationen in der Bindung. Dies stört insbesondere dann, wenn wichtige Details (94/95) oder Texte (30/31) nicht zu erkennen sind oder wenn der Raumeindruck gestört wird (232/233).
Positiv wirkt die Vielfalt der Projektionen und dargestellten Ausschnitte: Das schränkt im Sinne eines Atlas zwar die Vergleichbarkeit ein, regt andererseits aber zum Nachdenken an. Der Blick wird immer wieder irritiert. Es bedarf auf zahlreichen Karten einer Neuorientierung in Raum und Zeit, die gerade kritische Aspekte in den Mittelpunkt rückt. Damit erlaubt der Atlas immer wieder unsere gelernte Sicht auf Räumlichkeit und die Geschichte zu hinterfragen. Allerdings stellt sich auch die Frage der Zielgruppe: da immer wieder Fachbegriffe und Abkürzungen auftauchen, die weder aufgelöst noch erläutert werden (600: AWZ; 58: WK für Wendekreis) ist die Nutzung des Atlas sehr voraussetzungsvoll und kaum für die schulische Bildung geeignet. Es fehlen ein Abkürzungsverzeichnis und ein Glossar. Unklar ist, ob diese Probleme der Konzeption und ungenügenden Durcharbeitung des Atlas für die Zielgruppe(n) oder aber der Übersetzung anzulasten sind. Letztere scheint aufgrund mancher unlogischer Bezeichnungen nicht immer gelungen (88 Legende oben: "Ursprungsregion von Sklavenaufständen" müsste wohl eher "Ursprungsregion von Sklaven" heißen).
Bei näherer Betrachtung der einzelnen Atlaskarten fallen einige Punkte auf, die aus kartographischer Sicht zu kritisieren sind. Auch wenn sie manchen Leser:innen kaum auffallen, können sie den Lesefluss und die Informationsentnahme behindern, und damit auch das Lesevergnügen - wenn auch unbewusst - einschränken. Aus herstellerischer Sicht wird deutlich, dass der Atlas nicht bis ins letzte Detail kartographisch durchkonzipiert und durchgearbeitet wurde, sich wohl eher aus vorhandenen und für andere Zwecke erstellten Karten von L'Histoire speist. Dies betrifft vor allem folgende Punkte:
1. Schriftsatz: Kartenschriften sind teils zu weit vom zu beschreibenden Objekt entfernt (14); es sind Fehler bei der Freistellung von Schriften, die der besseren Lesbarkeit dient, zu beobachten (74 oben: "Dionysostheater"); die Schreibweise von Ortsnamen variiert zwischen Karte und Text (107: Kadesia/Qadisiyya); Endonyme und Exonyme werden in einer Karte genutzt (63); es sind Orte in der Karte beschriftet und grafisch hervorgehoben, deren Bedeutung für das Thema unklar ist, da keine Erwähnung im Text stattfindet (46/47, 107);
2. Grundkarten/Basiskarten: die Grundkarten sind teilweise inhomogen, für die gleiche Zeit und Region kommen unterschiedliche Karten zum Einsatz, was die Vergleichbarkeit einschränkt und unnötige Fragen aufwirft (39 und 45; Seen, Küstenlinie Rotes Meer); die Nutzung bzw. der Verzicht auf Schummerungen für das Relief wirkt wahllos und steht scheinbar in keinem inhaltlichen Zusammenhang zur gezeigten Thematik;
3. Legenden: Schriften sind in den Legenden grundsätzlich kleiner als in den Karten, was die Zuordnung und Informationsentnahme erschwert; auf mehreren Karten gibt es weitere Schriften, die in der Legende nicht erläutert sind (29, 36/37); es fehlen Angaben bzw. Symbole in den Zeichenerklärungen, die in den Karten vorkommen;
4. Orientierungsorte: zahlreiche Karten enthalten Ortssignaturen mit Beschriftung (meist schwarzer Punkt), die scheinbar nicht zum Thema gehören und auch nicht in den jeweiligen Legenden erläutert sind. Es ist unklar, ob es sich um Orientierungspunkte handelt, ob dies aktuelle Orte sind oder solche zum jeweiligen Zeitpunkt der Karte. (29, 94/95, 162/163) Das führt bei der Nutzung zu unnötigen Fragen und Unsicherheiten;
5. Farben: über das gesamte Werk gesehen wirken die Farben sehr angenehm und machen Lust zum Lesen und Schauen; allerdings sind Flüsse teils überhaupt nicht zu erkennen, weil die Linien zu dünn sind (52) oder die Flussfarbe vor den farbigen Flächen verschwindet (65, 149); teils ist deren Verlauf oder Vorhandensein nur durch die Beschriftung erkennbar; Farben von Symbolen lassen sich gerade bei künstlichem Licht kaum unterscheiden (585 unten);
6. Maßstäbe: die über die Maßstabsleiste angegebenen Maßstäbe müssen teilweise angezweifelt werden (64/65, 148 unten, 201, 212).
Auf die Inhalte soll hier nur am Rande eingegangen werden. Positiv fällt auf, dass der Atlas Themen behandelt, die in vergleichbaren Atlanten nicht gefunden werden können (340/341: "Migration weltweit"; 20/21: "Die Domestizierung von Pflanzen und Tieren", die den "Fruchtbaren Halbmond" ins visuelle Zentrum der Karte stellt und eine "Rückständigkeit" Europas deutlich macht; 472/473: "Der Gulag (1929-1953)") sowie, dass insbesondere außereuropäische Gegenden und Entwicklungen stärker als in anderen Atlanten üblich kartographisch verarbeitet und auch jüngere Entwicklungen zu aktuellen Themen wie dem Klimawandel aufgenommen wurden. Ebenso positiv ist zu vermerken, dass Unsicherheiten und Unschärfen in Daten und Interpretationen deutlich gemacht werden, sei es durch entsprechende Visualisierungen mit Farbverläufen (30/31, 63) oder durch Angaben in Legenden und Texten (14-19: "wahrscheinlich", "möglich", "ungefähr", "nach derzeitigem Kenntnisstand", "heftig umstritten"). Daneben gibt es aber auch Karten, die inhaltlich zu kritisieren sind: So vermittelt die Karte "Mauern ab 1900" (594/595) ein falsches Bild über lange Zeiträume, weil einerseits der Rückbau einiger Mauern nicht berücksichtigt wurde und immer vollständige Grenzen als mit Mauern versehen visualisiert wurden.
Insgesamt macht der Atlas im Vergleich zu anderen Geschichtsatlanten deutlich, dass sich Vorstellungen über Räume und Geschichte verändern können. Es kann angenommen werden, dass der Herausgeber das Konzept der Kontinente [1] mit diesem Werk durchbrechen wollte. Dies ist mit Einschränkungen gelungen: Mehrere Kapitelüberschriften nehmen auf "Europa" Bezug und zahlreiche Karten visualisieren die Verbreitung europäischer/westlicher "Ideale", sodass der Atlas weiterhin sehr eurozentrisch wirkt. Im Vergleich zu anderen Geschichtsatlanten ist es daher als positive Entwicklung zu deuten, dass weniger als die Hälfte der Karten Europa als Kontinent oder eine Teilregion Europas darstellen. Allerdings stellt die Mehrzahl der Karten Territorien weiterhin flächenhaft dar und grenzt diese trotz großer Unsicherheiten oftmals scharf gegeneinander ab (26, 32, 42, 68), womit weiterhin altbekannte und gelernte territoriale Muster gezeigt werden. Letztlich muss sich ein solches Produkt aber auch verkaufen lassen und unterliegt somit Lesegewohnheiten und Marktmechanismen. Alles in allem kann der Atlas jedoch als gelungener Versuch gewertet werden, übliche Sichtweisen auf die Geschichte unserer Welt zu irritieren und zu erweitern.
Ein Atlas lässt sich nur schwer von Seite 1 bis 640 "lesen", er animiert eher zum Durchschauen und an bestimmten Stellen hängenbleiben. Daher habe ich meine Kollegin Birgit Hölzel (Kartographie) um ihre ergänzende Einschätzung zu den Karten und Legenden gebeten. Diese sind in die Rezension mit eingeflossen und ich danke ihr für diese Unterstützung.
Anmerkung:
[1] Christian Grataloup: Die Erfindung der Kontinente. Eine Geschichte der Darstellung der Welt. Unter Mitarbeit von Andrea Debbou. Darmstadt 2021.
Jana Moser