Judith Breitfuß / Thomas Hellmuth / Isabella Svacina-Schild (Hgg.): Diskursanalytische Schulbuchforschung. Beiträge zu einer Kritischen Geschichtsdidaktik, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021, 207 S., ISBN 978-3-7344-1339-1, EUR 26,90
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In ihrem Sammelband schlagen die österreichischen Geschichtsdidaktiker:innen vor, die Diskursanalyse dem Methodenset der (geschichtsdidaktischen) Schulbuchforschung hinzuzufügen. Zugleich möchten sie damit den Grundstein für eine "Kritische Geschichtsdidaktik" legen. Dieses Vorhaben basiert auf der Beobachtung, dass in der Schulbuchanalyse neben qualitativen Inhaltsanalysen "Analysemethoden der 'empirischen Sozialforschung'" (5) dominieren. Weniger beachtet würden hingegen mögliche Wechselwirkungen zwischen Geschichtsbüchern und dem Norm- und Wertekanon der Gesellschaft sowie die Zusammenhänge von Fachdidaktik, Schulbuchgestaltung und Verwendung der Lehrmittel. Aus diesem Grund rücken sie die Betrachtung des "gesellschaftlichen Kontextes" (7) in den Mittelpunkt ihrer "kritischen Geschichtsdidaktik", die "in ihrer Zielsetzung die Überprüfung normativer Vorgaben hinter sich lässt und vielmehr gesellschaftskritische Funktion übernimmt" (9). Das Vorhaben ist begrüßenswert, da Schulbuchanalysen oftmals ideologiekritisch argumentieren und/oder Lehrwerke vor der Folie der fachwissenschaftlichen Richtigkeit beurteilen. Methodisch orientieren sich die Untersuchungen an Diskursanalysen von Michel Foucault, Jürgen Link und Siegfried Jäger sowie Achim Landwehr und verknüpfen sie mit hermeneutischen Methoden (8). Daraus entsteht ein Instrumentarium, das "die gesellschaftliche Kontextualisierung von Schulbüchern und damit auch geschichtsdidaktischer Paradigmen erlaubt und damit gleichzeitig Gesellschaftskritik ermöglicht" (15). Darin liegt eine Stärke des Bandes: Begrifflich operieren die Autor:innen mit ähnlichen Konstrukten, sodass der Entwurf der Kritischen Geschichtsdidaktik sein Potential entfalten kann, wenngleich eine weitere Ausschärfung des Konzepts wünschenswert scheint.
Der Beitrag von Thomas Hellmuth untersucht österreichische Geschichtsbücher mithilfe der Diskursstränge "Individualismus/Rationalismus", "Utilitarismus/Funktionalismus" sowie "Müßiggang/Emotion" (43). Besonders der dritte Diskursstrang irritiert zunächst, erweist sich jedoch in der Zusammenführung der Ergebnisse als fruchtbar: Im Zusammenhang "der Herausbildung des Wirtschaftsliberalismus sowie des damit verbundenen 'Zweckrationalismus' und Leistungspostulats" (52) seit dem 18. Jahrhundert habe der Diskursstrang nur eine untergeordnete Rolle gespielt, so Hellmuth. Zugleich werde damit wertvolles didaktisches Potential verschenkt, weil eben ein "'Geschichtsunterricht für Müßiggang'" (54) das Interesse an Vergangenheit und Geschichte wecken könne. Eine alternative fachdidaktische "Meta-Erzählung" (55) rücke die politische und soziale Funktionalisierung in den Hintergrund und jene Zugänge in den Vordergrund, die der Lebenswelt der Schüler:innen näher seien. Denn "indirekt auf Umwegen" (55) und mithilfe anderer Unterrichtsthemen (der Text nennt beispielsweise eine kulturgeschichtliche Perspektive auf den französischen Absolutismus) könnten die Lernziele ebenfalls erreicht werden.
Es zeichnet den Band neben der methodischen Kohärenz außerdem aus, dass er den Beiträgen großzügig Raum lässt, um sowohl ausführlich die verwendeten Methoden als auch die Ergebnisse der Analysen darzustellen. Isabella Svacina-Schild entfaltet in einem knapp 20-seitigen Anhang nach ihrem Beitrag über die Darstellung von Folter im Mittelalter in österreichischen Schulbüchern noch ihr methodisches Vorgehen sowie dessen Ergebnisse. Der Beitrag zeigt, wie das Thema Folter zur Konstruktion eines unterkomplexen und eindimensionalen Mittelalterbildes führt, indem die Epoche auf die kirchlichen Wert- und Moralvorstellungen reduziert wird, die jene Folterhandlungen rechtfertigten. Spannend ist die Deutung der Ergebnisse hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktion dieser Form der Schulbuchgestaltung, denn sie arbeitet heraus, dass zum Inhaltsfeld 'Mittelalter' exemplarische Zugänge gewählt werden, wodurch das Bild des finsteren Mittelalters entsteht, welches im Gegensatz zur demokratischen und rechtsstaatlichen Gegenwart steht. Gleichsam werden auf diese Weise die Diskurse der Populärkultur ins Schulbuch aufgenommen, sodass Nähe zur Lebenswelt der Lernenden entsteht (72).
Von dem großzügigen Rahmen der Beiträge profitiert auch Judith Breifuß' Aufsatz, der die Darstellung der Kolonialkriegführung in Indien zwischen 1905 und 2014 in britischen Geschichtsbüchern untersucht. Mithilfe der Kategorien 'historischer', 'institutioneller' und 'situativer Kontext' (116) werden zehn britische Geschichtsbücher untersucht und in ihren jeweiligen zeitlichen Entstehungskontexten gedeutet. So wird beispielsweise die Rebellion gegen die britische Kolonialmacht in den Geschichtsbüchern aus der Zeit der Jahrhundertwende gänzlich anders gedeutet als in den Darstellungstexten im Kontext der Dekolonialisierungsbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre sowie in gegenwärtigen Lehrwerken. Die Verwendung der Diskursanalyse ermöglicht es der Autorin, die Lehrbücher sowie die enthaltenen Urteile über Kolonialgeschichte und -kriegsführung in Britisch-Indien gewinnbringend im zeitgenössischen Kontext als Medien "des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft" [1] zu deuten.
In einem zweiten Beitrag untersucht Thomas Hellmuth Diskursstränge in dem französischen Geschichtsbuch "Petit Lavisse" aus dem 19. Jahrhundert, die zu Analysekategorien für die Darstellungstexte konkretisiert werden: Den geschichtswissenschaftlichen Diskurs, mit dem sich die französische Nation in der Vergangenheit verankerte, den ethnopluralistischen Diskurs sowie den Bildungs- und Erziehungsdiskurs, der das Idealbild des französischen Citoyens der Aufklärung verhandelte. Der Autor macht deutlich, inwiefern die Diskursanalyse eine "Gegenerzählung" (205) in Form unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten herausarbeitet. Das Beispiel der Deutung der rassistischen Diskurse der französischen Kolonialherrschaft als "'Vielfalt in der Einheit'" (205) überzeugt jedoch nicht gänzlich, da bei aller Schwierigkeit zur Benennung der Diskurse durch jene Bezeichnung die Betonung der Diversität die historischen Rassismuserfahrungen der französischen Kolonialgesellschaft überlagert.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass der Sammelband für die geschichtsdidaktische und historische Schulbuchforschung sowohl aufgrund seiner methodischen Herangehensweise als auch aufgrund seiner Ergebnisse eine Bereicherung darstellt. Die Forderung, Geschichtsbücher in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu verorten und zu deuten, wurde bereits in den 1970er-Jahren von Gerd Stein aufgeworfen, doch geriet lange in Vergessenheit. [2] Wie fruchtbar die Perspektive einer "Kritischen Geschichtsdidaktik" auf Lehrwerke ist, haben Judith Breitfuß, Thomas Hellmuth und Isabella Svacina-Schild deutlich gemacht und eindrücklich die Potentiale des diskursanalytischen Zugangs herausgearbeitet.
Anmerkungen:
[1] Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik als Wissenschaft vom Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft, in: Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II., hgg. von Hilke Günther-Arndt / Meik Zülsdorf-Kersting, Berlin 2003, 11.
[2] Gerd Stein: Das Schulbuch - Politicum/Informatorium/Paedagogicum. Oder: Von der Unzulänglichkeit eindimensionaler Schulbuchforschung, in: Schulbuchwissen, Politik und Pädagogik. Untersuchungen zu einer praxisbezogenen und theoriegeleiteten Schulbuchforschung, hg. von ders., Kastellaun 1977, 231-241.
Sabrina Schmitz-Zerres