Rezension über:

Massimo Osanna: Pompeji. Das neue Bild der untergegangenen Stadt, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2021, 412 S., 201 Abb., ISBN 978-3-8053-5274-1, EUR 62,50
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Rezension von:
Volker Michael Strocka
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Volker Michael Strocka: Rezension von: Massimo Osanna: Pompeji. Das neue Bild der untergegangenen Stadt, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 4 [15.04.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/04/37298.html


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Massimo Osanna: Pompeji

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Dieses Buch wurde nicht geschrieben, um die Neugierde flüchtiger Pompeji-Touristen zu befriedigen. Es setzt vielmehr einen ernsthaften Leser mit gewissen Vorkenntnissen voraus, der bereit ist, archäologischen Beobachtungen und Schlüssen bis ins Detail zu folgen. Denn es handelt sich um einen Rechenschaftsbericht des "Grande Progetto Pompei", dessen archäologischer Leiter der Autor von 2014 bis 2020 war. "Das neue Bild" Pompejis ersetzt nicht etwa die Ergebnisse bisheriger Forschungen, sondern ergänzt und bestätigt sie durch Neufunde, es bezieht sich vielmehr auf die grundlegend neue Organisation und Finanzierung der interdisziplinären Erforschung und Erhaltung der Ruinenstadt.

Der Leser wird zunächst in die lange Geschichte Pompejis (vom Ende des 7. Jahrhunderts v.Chr. bis 79 n.Chr.) eingeführt, und zwar am Beispiel der beiden wichtigsten Heiligtümer der Stadt, des Apollobezirks westlich des späteren Forums und des Heiligtums der Athena/Minerva (sowie des Hercules und der Nymphen) auf dem sogenannten Forum triangolare. An beiden Orten haben neuere Sondagen, abgesehen von topographischen Klärungen, eine Menge tönerner Votive ergeben, die zu verschiedenen Zeiten die Kontinuität der Kulte beweisen und zu Spekulationen über die jeweiligen Anlässe, die Kultgemeinde und die Funktion der Gottheit einladen. Am Minervatempel deuten Funde verschiedener Dachterrakotten auf bauliche Veränderungen im Laufe der Zeit hin. Insgesamt ergibt sich eine Blütezeit im 6. Jh. v.Chr., eine Verödung im 5. Jh. v.Chr. und ein Wiederaufblühen Pompejis in der Folgezeit. Bis in die letzten Jahre der Stadt wurden beide Heiligtümer umgebaut und ausgeschmückt.

Das nächste Kapitel ist einem Heiligtum gewidmet, das außerhalb von Pompeji liegt, und zwar wenige hundert Meter südlich des Amphitheaters, oberhalb des Sarno und des Hafens. Schon 1960 war es bei Bauarbeiten entdeckt worden. 1990 musste man gegen Raubgrabungen einschreiten, aber erst seit 2014 wird es systematisch ausgegraben. Man traf auf eine Fülle von Opfergaben, sogar Waffen, aber vor allem Gefäße aus dem 6. Jahrhundert v.Chr., an denen noch die Rückstände der Weinspenden nachgewiesen werden konnten. Sensationell ist nun, dass die im Heiligtum niedergelegten Spendengefäße etwa siebzig Mal eingeritzte Besitzernamen aufweisen, und zwar in etruskischer Schrift und Sprache. Dies entscheidet eine alte Streitfrage: Etrusker müssen im 6. Jh. enge Beziehungen zu Pompeji eingegangen sein und zum Teil hier auch gewohnt haben.

Das dritte Kapitel führt den Leser in die Regio V, wo zwischen Insulae V 2 und V 3 ein unausgegrabener Keil der Verschüttung beseitigt werden sollte. Man wollte die von der Via di Nola nach Norden abzweigende Gasse, jetzt Vicolo dei Balconi genannt, verlängern und damit die Ostseite der Insula V 2 freilegen. Dabei stieß man auf ein stattliches Haus unmittelbar südlich der Casa delle Nozze d'argento. Zwar von Raubgräbern durchwühlt, hatte es seine prachtvollen Wanddekorationen aus dem 2. Jh. v.Chr. weitgehend bewahrt. Schon die Fassade ist durch plastisch hervortretende Stuckquader und Gesimse im sogenannten Ersten Stil gegliedert. Auch Fauces, Atrium, Tablinum und weitere Räume am Atrium weisen diese monumentale Dekoration mit zum Teil noch farbigen Quadern auf. Bis auf die Sockelzone, die erneuert werden sollte, hat man also die rund zweihundert Jahre alte Ausstattung bewahrt. Während es dafür in Pompeji noch andere, weniger gut erhaltene Beispiele gibt, sind die beiden Mosaikbilder in der Ala 13 und im Cubiculum diurnum 6 ohne jede Parallele. Es handelt sich um in noch ältere Cocciopestoböden eingelassene Embleme von beträchtlicher Größe: 1,78 m hoch und 92 cm breit in der Ala, 79 cm hoch und 1,22 m breit im Cubiculum. Stilistisch sind sie gleichzeitig und gehören in die zweite Hälfte des 2. Jh. v.Chr., also in die Zeit der prachtvollen Wanddekorationen.

Ihrer Deutung ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Im Cubiculum soll der Jäger Orion dargestellt sein, in der Ala seine Verwandlung in ein Sternbild. Trotz suggestiver Argumentation ist diese Erklärung alles andere als überzeugend. Fatal, dass das Haus jetzt Casa di Orione heißt.

Ihm gegenüber wurde ein weiteres, allerdings weniger spektakuläres Haus ausgegraben, die Casa del Gardino. Wie so oft in den letzten Jahren Pompejis waren auch hier Renovierungen im Gange. Dieses Kapitel behandelt vor allem die zahlreichen Graffiti an den Wänden, die ganz frisch erschienen und in einem Fall sogar nahelegen, dass der Vesuvausbruch, wie schon früher vermutet wurde, nicht am 24. August 79, sondern zwei Monate später stattgefunden hat.

Bei der Absicherung der Grabungsgrenze auf der Ostseite der Via di Vesuvio stieß man zwangsläufig auf Mauern der Gebäude an der Westseite der Insula V 6. Dabei tauchten auch Fresken auf, die man sichern musste. In einem deswegen nur halb ausgegrabenen Haus, Casa di Leda getauft, enthielten die Dekorationen Vierten Stils, also der letzten Phase, Bilder des Priap im Eingang, des Narcissus im Atrium und der Leda mit dem Schwan in einem anstoßenden Cubiculum. Diese Themen sind auch aus andern Häuser geläufig, da aber das Bildchen mit der nackten Leda gut erhalten ist, machte es in der Presse Sensation und schmückt auch den Umschlag dieses Buches.

Das nunmehr siebente Kapitel beschreibt an der Kreuzung des Vicolo delle Nozze d'argento mit dem Vicolo dei Balconi angetroffene Befunde: eine Taberna mit dem Fresko eines Gladiatorenkampfes und ein Thermopolion, also eine Bar, mit prächtig bemalter Theke. Auch dies sind keine wirklichen Neuigkeiten in Pompeji.

Aufregender ist die teilweise Freilegung eines monumentalen Grabbaus an der Gräberstraße außerhalb der Porta di Stabia mit der bisher längsten lateinischen Inschrift Pompejis. Sie ist vollständig erhalten und schildert die ganz außerordentliche Freigebigkeit des ungenannten Toten gegenüber seinen Mitbürgern, die sich in großen Banketten, Brotverteilungen, opulenten Gladiatorenspielen und Tierhatzen darstellte. In einer fesselnden Kombination verschiedener Indizien wird höchst wahrscheinlich gemacht, dass es sich um den in den letzten Jahrzehnten Pompejis sehr prominenten Gnaeus Alleius Nigidius Maius handelt.

Die nächsten beiden Kapitel befassen sich mit dem Vesuvausbruch von 79 n.Chr. und seinen Folgen für die Pompejaner. Bestätigt durch Profile der neuen Ausgrabungen fielen in den ersten rund achtzehn Stunden Lapilli aus weißem, dann grauem Bimsstein herab, verschütteten die Straßen drei Meter hoch, drangen in die Häuser ein und brachten Dächer zum Einsturz. Dann folgten nicht weniger als vier sogenannte pyroklastische Ströme, also Asche- und Gaswolken, die jedes Leben erstickten und alles, was aus der Verschüttung herausragte, niederwalzten. Es wird ausführlich geschildert, wie Giuseppe Fiorelli 1863 zum ersten Mal den von der hart gewordenen Asche umgebenen Hohlraum einer verwesten Leiche mit Gips ausgoss. Die Faszination, Menschen in verschiedenen Stellungen während ihres Erstickungstodes zu sehen, war zunächst sehr groß, legte sich aber im Laufe der Jahrzehnte, als immer mehr Leichen ausgegossen wurden, übrigens mit immer schlechterem Gips und geringerer Sorgfalt. Erst nach 2014 wurden die in verschiedenen Depots gelagerten Gipsleichen erstmals inventarisiert und restauriert, immerhin 90 von 103 erwähnten.

Das elfte und letzte Kapitel schildert die sehr wechselvolle Grabungsgeschichte seit 1748, die großen Leistungen, aber auch Versäumnisse der Ausgräber und Verwalter bis zum Jahr 2010, in dem es in der baufällig gewordenen Ruinenstadt einen spektakulären Einsturz gab. Die dadurch ausgelöste internationale Diskussion führte zu einer grundsätzlichen Neuorganisation der Zuständigkeiten und zur Einstellung von bisher fehlenden Experten auf unterschiedlichen Gebieten, die zur Zusammenarbeit verpflichtet wurden. Dies wurde ermöglicht durch nicht weniger als 105 Millionen Euro von Seiten der EU. Inzwischen ist ganz Pompeji digital katalogisiert, sind viele Bauschäden behoben und Dekorationen restauriert. Möge es so weitergehen!

Das Buch enthält zahlreiche Anmerkungen, eine umfangreiche Bibliographie vor allem neuerer italienischer Publikationen und erleichtert die Lektüre durch 43 Farbtafeln und 158 Schwarz-weiß-Aufnahmen.

Volker Michael Strocka