Anne Kurr: Verteilungsfragen. Wahrnehmung und Wissen von Reichtum in der Bundesrepublik (1960-1990) , Frankfurt/M.: Campus 2022, 360 S., 19 Abb., ISBN 978-3-593-51592-2, EUR 45,00
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Über Geld, so heißt es, spricht man nicht. Von diesem Postulat hat sich Anne Kurr in ihrer geschichtswissenschaftlichen Studie über Verteilungsfragen allerdings nicht beirren lassen. Im Gegenteil: Kurr geht der Frage nach, unter welchen sozioökonomischen Rahmenbedingungen sich Reichtum in gesellschaftspolitischen Diskussionen zeigte und ob sich bestimmte "Konjunkturen der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der Wissensproduktion zu Reichtum in der Bundesrepublik der 1950er bis 1980er Jahre" (18) ausmachen lassen. In der Analyse von Reichtum und dessen Rezeption in der Bundesrepublik sieht sie sich über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg mit dem Befund konfrontiert, dass belastbare Daten und Statistiken zur "tatsächlichen" Verteilung des Reichtums in Deutschland weder den von ihr untersuchten Akteuren aus Wissenschaft, Politik und Medien noch ihr selbst vorlagen.
Die Autorin überwindet diese Hürde methodisch sehr überzeugend, indem sie in ihrer Studie Reichtum als Konstrukt begreift, dass sich weniger anhand konkreter Zahlen ermitteln lässt, sondern vielmehr durch die reziproke Bezugnahme verschiedener Akteursgruppen diskursiv geformt wird. Das Sprechen, die Wahrnehmung und das Wissen über Reichtum können - so Kurrs These - somit als Kulturtechnik begriffen werden, um die "soziale Ordnung greifbar zu machen" (23). Der wissensgeschichtliche Ansatz, den sie mit ihrer Untersuchung verfolgt, lässt sich der historischen Forschung zu sozialer Ungleichheit zuordnen. Hier haben sich zeithistorische Studien zur Bundesrepublik bis dato jedoch überwiegend mit marginalisierten Gruppen, Armut und Klassendiskussionen auseinandergesetzt. Kurrs Analyse von Reichtum im Sinne eines dazu komplementären, sozialen Konstrukts schickt sich daher an, ein zeitgeschichtliches Forschungsdesiderat zu füllen. Hierfür greift die Autorin auf drei größere Quellenkomplexe zurück. Neben wissenschaftlichen Studien zur Vermögensentwicklung und Verteilung zitiert Kurr eine Vielzahl massenmedialer Produkte wie überregionale Zeitungen, politische Fernsehformate und populärwissenschaftliche Arbeiten. Vervollständigt werden mediale und wissenschaftliche Beiträge durch politische Positionen aus der Vermögenspolitik.
Die Studie ist chronologisch aufgebaut und umfasst fünf inhaltliche Kapitel. Fernab dessen lässt sich die Arbeit jedoch in zwei größere zeitliche Abschnitte unterteilen. Die erste Phase, der Kurr vier der fünf inhaltlichen Kapitel widmet, beginnt mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der späten 1950er Jahre und endet mit dem Beginn der Ölpreiskrise 1973. Kurr eröffnet ihre Untersuchung mit der zunehmenden medialen Berichterstattung zu Reichtum in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren. In Reaktion darauf versuchte die Adenauer-Regierung, ein transparenteres Bild der Verteilung des deutschen Vermögens zu erstellen, indem sie verschiedene Institutionen mit Untersuchungen zur Vermögensverteilung betraute. Die Ergebnisse dieser Studien einte der Befund, dass "die Verteilung der Steuerlast [...] nicht die gewünschte Redistribution der Einkommen [bewirke]" (88) und staatlicher Handlungsbedarf bestünde. Es folgten Appelle linksliberaler Medien, der SPD und der Gewerkschaften an die Regierung, stärker in die Vermögensverteilung der jungen Bundesrepublik einzugreifen. Arbeitgebernahe Verbände reagierten, indem sie ein sozialistisches Schreckgespenst entwarfen und vor einem kollektiven "Versorgungsstaat" (49) warnten.
Bis 1973 problematisierten linksliberale Medien fortwährend die Verteilung des Reichtums und prägten den gesellschaftlichen Diskurs aktiv mit. Dies geschah etwa durch skandalisierende Berichte über den Lebensstil der Reichen, zur Steuerflucht oder zu Kontinuitäten von Vermögen, die nicht selten vom Nationalsozialismus profitiert hatten. Konservativere Medien hingegen betonten die Errungenschaften individueller Unternehmer. Die "Wirtschaftswunderknaben" (130) dienten hier als Beweis, dass Reichtum und Wohlstand in der Bundesrepublik insbesondere mit der eigenen Leistung korrelierten und weniger von staatlicher Verteilung abhingen.
Trotz verschiedener Positionen kann die anhaltende mediale Berichterstattung über Reichtum und dessen Verteilung - so Anne Kurr - als Indikator für einen gesellschaftlichen Linksruck verstanden werden, der 1969 in der sozialliberalen Koalition kulminierte. Zwar warnte Willy Brandt als neuer Bundeskanzler vor einer übertriebenen Belastung der Wirtschaft, da man "die Kuh pflegen [müsse], die man melken wolle" (204). Gleichwohl bestätigen etwa Wahlkampfparolen der CDU, in denen man "das ganze Volk am Produktionskapital beteiligen" (174) wolle, die These der Autorin: Infolge des Wechselspiels zwischen wissenschaftlichen Studien und medialer Berichterstattung hat sich die politische Notwendigkeit staatlicher Umverteilung von Reichtum bis 1973 diskursiv etabliert.
Mit der Ölpreiskrise 1973 endete die Phase hohen Wachstums, niedriger Inflation und hoher Beschäftigungsrate in der Bundesrepublik. Die Bedeutung dieses Umbruchs für die Wahrnehmung von Reichtum veranschaulicht Kurr auf politischer, medialer und wissenschaftlicher Ebene. So verweist sie auf den 1974 gewählten Bundeskanzler Helmut Schmidt, dessen Regierung sich "angesichts veränderter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen [...] auf wirtschaftspolitisches Krisenmanagement konzentrieren [müsse]" (230). Die Umsetzbarkeit vergangener Reformbestrebungen wurde jedoch nicht nur durch die Regierung in Abrede gestellt. Neue wissenschaftliche Studien attestierten in Abgrenzung zu skandalisierenden Erhebungen der 1960er Jahre, dass die Vermögensverteilung in der Bundesrepublik relativ ausgeglichen sei. Die Bürgerinnen und Bürger hätten große Mengen Kapital gespart und sollten selbst in Unternehmen investieren, statt von staatlicher Verteilung zu profitieren.
Auf medialer Ebene ebbte das Interesse an Verteilungsfragen seit Mitte der 1970er Jahre drastisch ab. Die Autorin zeigt, dass Reichtum nicht mehr als national erwirtschaftetes Gesamtprodukt betrachtet, sondern stärker in globalen Zusammenhängen gedacht wurde. "Statistisch gesehen", so zitiert Kurr einen Titel der Deutschen Presse-Agentur von 1985, "sind die Deutschen gewaltig reich" (280). Für den Zeitraum 1973 bis 1990 resümiert sie, dass im Kontext neu aufkommender globaler Finanzregime auf medialer, politischer und wissenschaftlicher Ebene weitestgehend Konsens über den staatlichen Rückzug aus der Vermögenspolitik bestand. Reichtum sollte nicht mehr verteilt, sondern investiert werden.
Anne Kurr hat sich mit ihrer Dissertationsschrift dem Thema Reichtum in der Bundesrepublik trotz schlechter Datenlage sehr gewinnbringend angenähert. Anhand der Analyse wechselseitiger Bezugnahmen von Medien, Politik und Wissenschaft auf die Wahrnehmung von Reichtum hat sie eine Geschichte von Reichtum in der Bundesrepublik verfasst, die ab 1973 einen deutlichen Bruch aufweist: Der Wunsch nach staatlicher Verteilung des Reichtums weicht marktliberalen Vorstellungen. Mit Blick auf zukünftige Forschungen bietet sich die Frage an, wie und ob sich dieser Bruch auch in anderen europäischen oder internationalen Volkswirtschaften bemerkbar macht. Spannend wäre auch, wie sich die Frage nach Verteilung von Reichtum in der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung Deutschlands gestaltete. Insgesamt hat Kurr überzeugend aufgezeigt, dass es sich entgegen des eingangs zitierten Postulats lohnt, über Geld zu sprechen - gesagt ist hier noch längst nicht alles.
Frederic Kunkel