Wolfram Pyta / Nils Havemann (Hgg.): Alfred Dregger. Zeitpolitiker der Wiedervereinigung und Anwalt des Parlamentarismus, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 582 S., ISBN 978-3-412-52682-5, EUR 59,00
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Alfred Dregger (1920-2002) kam Mitte der 1950er Jahre über die kommunale Verwaltung in die Politik. Von 1956 bis 1970 war er Oberbürgermeister von Fulda, machte von dort aus in der hessischen CDU politische Karriere, war von 1967 bis 1982 Landesvorsitzender und trat vier Mal bei Landtagswahlen als Spitzenkandidat an. Während dieser Zeit formte er den Landesverband zu einer politischen Kampfgemeinschaft. Es gelang ihm zwar, die CDU in dem SPD-Stammland zur stärksten Partei machen, aber nie das Amt des Ministerpräsidenten zu gewinnen, da die FDP damals die SPD-Mehrheit absicherte. Bereits seit 1972 war er Mitglied des Bundestags; nach dem letzten Anlauf als Spitzenkandidat legte er 1982 den Landesvorsitz nieder und wurde Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, wo er sich bemühte, diese als eigenständigen politischen Faktor gegenüber der unionsgeführten Regierung unter Helmut Kohl zu erhalten. Nicht zuletzt aufgrund seines kämpferisch antisozialistischen Politikstils galt er "als der wohl bekannteste Exponent einer konservativen CDU-Politik, was ihn zeitgenössisch bereits zu einer umstrittenen Figur machte", wie es auf der von der Konrad-Adenauer-Stiftung geführten Webseite zur Geschichte der CDU heißt. [1]
Genau diese Sicht auf Dregger teilen die Autoren der hier zu besprechenden Biografie nicht. Denn sie sehen in ihm gerade keinen Protagonisten des konservativen Flügels der CDU, sondern einen Nationalliberalen im wahrsten Sinne des Wortes. Diese nationalliberale Traditionslinie sei in der Historiographie zur CDU unterrepräsentiert, wie überhaupt der Nationalliberalismus von der Konservatismusforschung vereinnahmt worden sei. Sie verstehen Konservatismus als "ein Ordnungsdenken, das soziale Entitäten und intermediäre Einheiten aufgrund ihrer Tradition legitimiert und ihnen die Funktion zuweist, dem Einzelwesen Halt zu geben" (13). Dabei beziehen sie sich auf Rödders Studie über den britischen Konservatismus im 19. Jahrhundert; jedoch lässt dessen neueres Buch darüber, was er heute als konservativ bezeichnen würde, daran zweifeln, ob jenes Verständnis für den deutschen Konservatismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch wirklich maßgeblich ist. [2]
Aber unabhängig davon sind Pytas und Havemanns Argumente dafür, Dregger als einen Nationalliberalen einzuordnen, zahlreich und eindrucksvoll. Während die nationale Einstellung bei Dregger durch die Sozialisation in nationalkatholischen Milieu seiner Jugend und dann in den fast sechs Jahren, die er als Berufsoffizier in der Wehrmacht diente, quasi selbstverständlich gewesen sei, so habe sich die liberale Grundüberzeugung erst während des rechtswissenschaftlichen Studiums in Marburg entwickelt: "Sein Denken kreiste nicht mehr ausschließlich um die ihn begleitenden Gemeinschaftsvorstellungen; ihm zur Seite gesellte sich eine zunehmende Anerkennung individueller Autonomie gerade im Bereich der Ökonomie" (93). Die Wahlprogramme der hessischen CDU in den 1970er Jahren seien liberal profiliert gewesen, was schon deshalb sinnvoll gewesen sei, als die der neuen Ostpolitik gegenüber kritisch eingestellten FDP-Wähler eine wichtige Zielgruppe gewesen seien. Zweimal sei Dregger mit einem Wahlprogramm angetreten, das mit "Für eine liberale Erneuerung" betitelt war. Darüber hinaus sei er ein wichtiges Bindeglied zu den FDP-Renegaten der 1970er Jahre gewesen. Auf dem CDU-Bundesparteitag von 1971, als es ihm gelang, einen Parteitagsbeschluss zugunsten der paritätischen Mitbestimmung im Betrieb zu verhindern, habe er im Sinne Ludwig Erhards mit der Freiheit argumentiert, die sich eben auch auf die Nutzung des Privateigentums an den Produktionsmitteln beziehe.
Hatte Dregger sich schon, bevor er in den Bundestag gewählt worden war, als scharfer Kritiker der neuen Ostpolitik profiliert, so gelang es ihm nach seiner Wahl, die zentralen Anliegen des Nationalliberalismus, Freiheit und nationale Einheit, ganz in der Tradition Adenauers zu verbinden. Die Wiedervereinigung ist der Dreh- und Angelpunkt der Interpretation von Pyta und Havemann. Ohne sie wären sie nicht umhingekommen, Dregger als "ewig gestrigen" Politiker darzustellen - wenn es denn überhaupt ein Interesse für eine Dregger-Biografie gegeben hätte. Da es die Wiedervereinigung aber nun einmal gegeben hat, sehen sie Dregger fast schon als einen Visionär, der an seiner nationalliberalen "Utopie" (216) der Befreiung nicht nur der DDR, sondern auch der osteuropäischen Satellitenstaaten gegen wachsende Widerstände auch in der eigenen Partei festhielt. Dass er in den 1980er Jahren das "Kontingenzbewusstsein" (371) wachgehalten hatte, gab ihm dann die Gelegenheit, 1989/90 seine eigentlich historisch bedeutende Rolle zu spielen, Helmut Kohl dabei zu helfen, den richtigen Zeitpunkt zum Handeln in den dynamischen und hochkomplexen Entscheidungssituationen jener Jahre nicht nur zu finden (daher der prima facie etwas kryptische Untertitel des Buches), sondern auch in der Fraktion abzusichern. So konnte er dazu beitragen, seinen nationalliberalen Lebenstraum zu erfüllen.
Bei alledem würdigen die Autoren immer wieder, wie stark Dreggers Führungsstil und seine kämpferische Rhetorik durch seinen Dienst in der Wehrmacht geprägt waren. Von 1940 an war er fast permanent im Fronteinsatz gewesen und hatte am Ende des Krieges im immer noch jugendlichen Alter von 24 Jahren die Funktion eines Bataillonskommandeurs ausgeübt. Dass er an Kriegsverbrechen beteiligt war, halten die Verfasser nach Prüfung auch privater Quellen für höchst unwahrscheinlich. Dieser Befund ist wichtig, weil Dregger sich in den späten Jahren seines politischen Lebens als (letzter) Sprecher der Kriegsgeneration empfand und sich nach Kräften bemühte, die Ehre der Wehrmacht zu verteidigen und ein positives Narrativ über den deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs im kulturellen Gedächtnis der Nation zu verankern. Damit ist er in den 1990er Jahren letztlich gescheitert, auch wenn er bei politischen Gegnern Anerkennung dafür fand, in der Parlamentsdebatte über die umstrittene Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung "seine Position im Lichte anderer Argumente und Erfahrungen relativieren" zu können (513). In jener Debatte habe sich der Bundestag als der "Kommunikationsraum" erwiesen, der Dregger, der "sich in seiner verzweifelten Suche nach Bundesgenossen weit nach rechts bewegt hatte, wieder einzubinden vermochte" (513).
Kurzum, es handelt sich um eine kultur- und sozialwissenschaftlich außerordentlich informierte Biographie, die eine Fülle parteien- und parlamentarismushistorischer Erkenntnisse bietet und deren bemerkenswert positive Sicht auf "Don Alfredo" (Helmut Kohl) sicher noch für Diskussionen sorgen wird. Zuweilen geht das theoretische Niveau etwas auf Kosten der Anschaulichkeit; warum dieser standhafte Nationalliberale in linken Milieus zu einem Feindbild wurde, ist dem Leser nach der Lektüre nicht ganz verständlich.
Anmerkungen:
[1] Philip Rosin: Alfred Dregger, in: Konrad-Adenauer-Stiftung; https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/personen/biogramm-detail/-/content/alfred-dregger [13.03.2023].
[2] Andreas Rödder: Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne (1846-1868), München 2002, und ders.: Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland, München 2019.
Torsten Oppelland