Birke Häcker / Wolfgang Ernst (eds.): Collective Judging in Comparative Perspective. Counting Votes and Weighing Opinions, Mortsel: Intersentia Publishers 2020, XXI + 342 S., ISBN 978-1-78068-624-0, EUR 107,00
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Obwohl kollegialisch organisierte Entscheidungsprozesse rund um den Globus einen festen Bestandteil unterschiedlichster Rechtssysteme bilden, weist die analytische Durchdringung von Kollegialität vor allem im deutschsprachigen Raum offenkundige Mängel auf. Während die Rechtswissenschaft traditionell den soziologischen Problemen ausweicht, zu denen es bei der Anwendung der auf individuelle Erkenntnisbildung zielenden juristischen Methode durch Kleingruppen kommt, fällt es der Geschichtswissenschaft epochenübergreifend schwer, überhaupt fachspezifische Zugänge zu kollegialer Rechtserzeugung und juristischen Begründungstechniken zu entwickeln. Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft mangelt es deshalb an einem gemeinsamen Praxisbegriff, mit dem sich jene Intellektualisierung und Entkörperlichung gerichtlichen Entscheidens überwinden ließe, auf der die Selbstbeschreibung des modernen Rechtssystems maßgeblich beruht.
Der vorliegende Band nähert sich dem Desiderat aus rechtsvergleichender Perspektive, geht auf eine 2017 in Oxford veranstaltete Tagung zurück und schließt thematisch an eine bereits 2016 publizierte Studie des Mitherausgebers Wolfgang Ernst an, in der kollegiale Rationalitätsansprüche einer präzisen Kritik unterzogen wurden. [1] Die Beiträge kreisen um die Frage, wie Kollegien in den Rechtskreisen des angloamerikanischen Common Law und des kontinentaleuropäischen Civil Law ihren Abstimmungsprozess organisieren und mit Meinungsverschiedenheiten unter ihren Mitgliedern umgehen. Wie Ernst einleitend darlegt, hat man es beim Urteil im Common Law mit einem Aggregat einzelner Richtersprüche zu tun, da die Mitglieder zwar nach Mehrheitsprinzip über die Entscheidung abstimmen, diese jedoch jeweils individuell begründen.
Dieser Seriatim-Methode, bei der von der Mehrheitsmeinung abweichende Positionen sowohl hinsichtlich des Ergebnisses als auch der Begründung offen an die Umwelt kommuniziert werden, steht im Civil Law die Per-curiam-Methode gegenüber. Hier spricht das Kollegium allein, und zwar nicht nur hinsichtlich der rechtlichen Argumentation, sondern auch mit Blick auf die der Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen. Sieht man von Ausnahmen wie den Minderheitsvoten am Bundesverfassungsgericht ab, verfügen die Beisitzer im Civil Law also zumeist nicht über die Möglichkeit, sich gegenüber dem Kollegium auf eine individuelle Position zurückzuziehen und diese nach außen zu vertreten.
Wie sich diese unterschiedlichen Prinzipien konkret auswirken, verdeutlichen von Richterinnen und Richtern verfasste Beiträge zur Praxis einzelner Höchst- und Verfassungsgerichte. Der Band versammelt für den Rechtskreis des Common Law Aufsätze zu Großbritannien, Australien und den USA sowie für den Bereich des Civil Law zu Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Japan. Die supra- und internationale Ebene ist mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem Gerichtshof der Europäischen Union, den Internationalen Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda sowie der Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche vertreten.
Historikerinnen und Historiker können von alledem viel lernen. Denn es kommt eine Riege reflektierter Rechtspraktiker zu Wort, deren Einschätzungen zahlreiche Anknüpfungspunkte bieten, um jenes prozessuale Verständnis kollegialen Entscheidens zu entwickeln, an dem es bislang noch mangelt. Die Beiträge erschöpfen sich nämlich keineswegs in einem Referat der einschlägigen gesetzlichen Vorgaben, sondern betonen immer wieder die zentrale Rolle, die informellen Strukturbildungen im Prozess des Entscheidens zukommt. Johanna Schmidt-Räntsch kann sich beispielsweise aus ihrer 15jährigen Tätigkeit in einem Zivilsenat des Bundesgerichtshofs nur an drei Verfahren erinnern, in denen der Beratungs- und Abstimmungsvorgang den ziselierten Vorgaben des Gerichtsverfassungsgesetzes vollauf entsprochen hätte (154), und aus Wien berichtet Georg Kodek: "rules are rarely applied" (202).
Für eine soziologisch informierte Justizforschung bildet dies eine Fundgrube, zumal die rechtsvergleichende Perspektive erfrischend wirkt und an die Erkenntnis erinnert, dass Logik nicht etwa "in den Institutionen und ihrer äußeren Funktionalität [zu suchen ist], sondern in der Art, in der über sie reflektiert wird". [2] Dominique Hascher, Richter am Pariser Cour de Cassation, bringt es auf den Punkt: "The expression of collegiality in the decision-making process is as diverse as there are types of jurisdictional organisations." (129). Was im einen Rechtskreis für rational gehalten wird, erscheint aus der Perspektive des anderen als problematisch. Aus einer spezifisch deutschen Sicht fällt beispielsweise der erheblich geringere Formalisierungsgrad der Gerichtsverwaltung im angloamerikanischen Bereich auf, der mit Blick auf die Geschäftsverteilung kein Pendant zum Anspruch auf den gesetzlichen Richter kennt.
Diese im internationalen Vergleich erheblich voneinander abweichenden Rationalitäts- und Transparenzerwartungen an kollegiales Entscheiden sind ihrerseits das (vorläufige) Ergebnis kontingenter historischer Prozesse, die jedoch aufgrund etablierter Epochenschranken in der Justizforschung noch weithin im Dunkeln liegen. Sollen altbackene Modernisierungsnarrative historisiert werden, bedarf es gerade auf dem Feld der Kollegialgerichtsbarkeit des Brückenschlags zwischen Zeitgeschichte und Frühneuzeitforschung, denn viele der im vorliegenden Band diskutierten Probleme verfügen über eine jahrhundertealte Genealogie.
Dies gilt beispielsweise für die Schlüsselfunktion, die im Civil Law dem Berichterstatter zukommt, der die Akte im Vorfeld der gemeinsamen Deliberation aufbereitet und dem Spruchkörper einen Entscheidungsvorschlag unterbreitet. Wie schon Mathilde Cohen luzide herausgearbeitet hat [3] und hier in mehreren Aufsätzen wiederum deutlich wird, ist die kollegiale Beratung auf dem Kontinent im Vergleich zum Common Law durch ein ausgeprägtes informationelles Ungleichgewicht zugunsten einzelner Mitglieder gekennzeichnet. Eine epochenübergreifend konzipierte Justizforschung könnte sich hier einbringen und aufzeigen, dass man vor einem wissenssoziologischen Problem steht, dem eine Scharnierfunktion zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart zukommt.
Denn die Abkehr vom frühneuzeitlichen Schriftlichkeitsgrundsatz durch die Mündlichkeitsmaxime der Reichszivilprozessordnung von 1877 war auch ein Misstrauensvotum gegen die juristische Expertise der Berichterstatter. [4] Kollegiale Rechtserkenntnis sollte sich nämlich nicht länger auf deren womöglich tendenziöse Vorträge, sondern auf eine mündliche Verhandlung stützen, in der sich der Streitstoff allen Mitgliedern gleichsam unverfälscht mitteilte. Damit verband sich die Hoffnung, es könne auf die Bestellung von Berichterstattern künftig verzichtet werden. Die in dieser Hinsicht offenkundig gescheiterte Reform von 1877 wies der mündlichen Verhandlung somit eine kognitive Funktion zu, die heutigen Tags dem Common Law wesentlich näherstehen dürfte als der Gerichtspraxis in der Bundesrepublik. Nach alledem ist es kein Wunder, dass die brisanten rechtspolitischen Debatten des 19. Jahrhunderts in der Jurisprudenz der Amnesie anheimfielen. Auf dem Weg zu einer "anderen Geschichte der Gegenwart" (Foucault) könnte eine nicht mit legitimatorischen Aufgaben belastete Justizforschung diese und andere Aporien kollegialen Entscheidens bearbeiten. Der vorliegende Band bietet hierfür vielfältige Anknüpfungspunkte, weshalb ihm auch in der Geschichtswissenschaft zahlreiche Leserinnen und Leser zu wünschen sind.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Ernst: Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten. "group choice" in europäischen Justiztraditionen, Tübingen 2016.
[2] Peter L. Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 27. Aufl., Frankfurt a.M. 2018, 68f.
[3] Mathilde Cohen: Ex Ante Versus Ex Post Deliberations: Two Models of Judicial Deliberations in Courts of Last Resort, in: American Journal of Comparative Law 62 (2014), 401-458.
[4] Hierzu Tobias Schenk: Actum et judicium als analytisches Problem der Justizforschung. Interdisziplinäre Perspektiven auf kollegiale Entscheidungskulturen am Beispiel des kaiserlichen Reichshofrats, Wetzlar 2022, 40-49.
Tobias Schenk