Oliver Heyn: Cheongcheon 1950. Wende im Koreakrieg (= Schlachten - Stationen der Weltgeschichte), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2021, 344 S., 44 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-70431-3, EUR 29,90
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In der vorliegenden Monografie geht Oliver Heyn auf eine Schlacht in einem vergessenen Krieg ein. Der Koreakrieg (1950-1953) gilt in der Forschung als wenig präsent. Dies betrifft besonders den deutschsprachigen Raum. Aufgearbeitet wird eine der größten Niederlagen der amerikanischen Militärgeschichte. In diesem Punkt sind sich sämtliche Veröffentlichungen zum Koreakrieg einig, die sich auf die Ereignisse im Winter 1950 beziehen.
Das Eingreifen des kommunistischen China im November 1950 gilt als Schlüsselereignis des Koreakrieges. Tatsächlich bestimmte die Intervention maßgeblich den weiteren Verlauf der Kampfhandlungen auf der koreanischen Halbinsel. Auch auf die westliche Welt hatte der Konflikt Auswirkungen. Aus westdeutscher Perspektive war die Furcht vor einem kommunistischen Angriff im ebenfalls geteilten Land ein maßgeblicher Grund für die Wiederbewaffnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg förderte der Koreakrieg den Austausch im kommunistischen Lager, wenngleich sich langfristig Brüche zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China auftaten.
Der Autor betritt insgesamt weitestgehend Neuland. Zur Schlacht am Fluss Cheongcheon im heutigen Nordkorea nahe der Grenze zur Volksrepublik China existieren bisher nur zwei ältere englischsprachige Studien. Die fallen generell kleinteilig aus und vernachlässigen die erfahrungsgeschichtliche Perspektive der Ereignisse. Oliver Heyn verwendet für die Monografie viele bisher unerschlossenen Quellen, die erst in den letzten zwei Jahrzehnten zugänglich geworden sind, wobei der Großteil aus westlichen Ländern stammt.
In den einleitenden Kapiteln werden allgemeine Eckdaten des Koreakriegs und seiner Vorgeschichte behandelt. Dieser Einstieg fällt nicht zu detailliert aus und bleibt auf das Hauptthema fokussiert. Kapitel drei behandelt das Hauptthema der Monografie und nimmt den größten Teil der Darstellung ein. Im Einklang mit der Forschung zum Koreakrieg werden als Gründe für die Niederlage der UN-Streitkräfte vor allem eine Unterschätzung der chinesischen Interessen, mangelnde Vorbereitung auf einen Krieg unter extremen Winterbedingungen und ein nachrichtendienstliches Versagen westlicher Geheimdienste genannt. Weiten Raum nehmen nachfolgend Schilderungen zur Militärtaktik einzelner Truppenteile ein. Besonders die in anderen Publikationen meist nur kurz angesprochene chinesische Taktik der "Menschenwelle" wird anschaulich geschildert.
Auch der menschliche Faktor der Kampfhandlungen wird thematisiert. Der Koreakrieg war auch die Geschichte des Niederganges des amerikanischen Oberbefehlshabers Douglas MacArthur. In den einzelnen Kapiteln wird die durch den Pazifikkrieg (1941-1945) populäre Person MacArthur dekonstruiert. Diese Darstellung schließt sich der Forschungsmeinung an. MacArthurs Stern sank mit Fehlentscheidungen im Koreakrieg. Die kleinteilige Darstellung der Konfusion der UN-Streitkräfte an einzelnen Frontabschnitten widerlegt das Bild anderer Publikationen, die nur von einem Rückzug sprechen. Die eindrucksvoll geschilderten chaotischen Umstände innerhalb der UN-Streitkräfte während der chinesischen Gegenoffensive erinnern eher an eine ungeordnete Flucht. Im Einklang mit der Militärtheorie nach von Clausewitz kann vielmehr das Element des Zufalls erklären, dass einzelne UN-Truppenteile nicht vollständig vernichtet wurden.
Maßgeblich für das Versagen der westlichen Taktik im November 1950 waren laut Heyn die multinationalen Kampfverbände der UN-Streitkräfte. Unterschiedlicher Ausbildungsstand und sprachliche Hürden hätten sich als nachteilig erwiesen. Auch die starren Kommandostrukturen vor allem innerhalb der amerikanischen Streitkräfte werden als Beleg für diese These angeführt. Die chinesischen Streitkräfte hingegen hätten sich durch eine große Flexibilität ausgezeichnet. Der Lufthoheit der UN-Streitkräfte haben man durch Nachtangriffe und Täuschungsmanöver getrotzt.
Das vierte Kapitel richtet den Blick auf die kämpfenden Soldaten an den einzelnen Frontabschnitten. Im Einzelfall zeigen sich darin Tragödien, die nicht mit Verlustzahlen abgebildet werden können. Dies gibt den Schilderungen zum Schlachtgeschehen im vorherigen Kapitel einen erkenntnisfördernden Kontrast. Das Bild der Militärangehörigen der UN-Streitkräfte ist vor allem dadurch geprägt, dass die Rekruten unbedarft in den Krieg zogen. Als Beleg liefert der Autor eine Vielzahl von Zeitzeugen, die den Krieg nur aus Kinofilmen kannten und diese Vorstellungen auf die Realität projizierten.
Abschließend wird auf die erinnerungskulturelle Bedeutung der Schlacht eingegangen. In Anbetracht der unterschiedlichen politischen Systeme der ehemaligen Kriegsparteien fällt das Fazit dazu unterschiedlich aus. In China und Nordkorea wird der Kriegseinsatz als heroischer Sieg erinnert. In der westlichen Welt ist die Schlacht am Cheongcheon eher vergessen. Dies gilt auch für den Koreakrieg generell. Abgerundet wird das Buch am Ende mit Kartenmaterial und einigen Bildquellen.
Stärken der vorliegenden Publikation sind insbesondere die kleinteilige Schilderung der Kampfhandlungen und die Perspektive der Soldaten. Auch wird den kommunistischen Streitkräften mehr Raum in der Darstellung gegeben; dies gilt insbesondere für die chinesische Seite. Durch das verwendete Quellenmaterial dominiert eine westliche Sichtweise. Mangels der Zugänglichkeit chinesischer Quellen ist dies nicht verwunderlich, aber durch die Verwendung einiger zugänglicher Quellen aus China bemüht sich der Autor um eine ausgewogene Darstellung.
Forschungslücken sind freilich unübersehbar zum Koreakrieg. Bezüglich der Erinnerungskulturen wäre ein stärkerer Fokus auf Südkorea interessant gewesen. Doch immerhin versucht der Autor, die in anderen Publikationen vorherrschende amerikanische Perspektive aufzubrechen. Der Koreakrieg war ein multinationales Ereignis. Mit dem Einbringen der britischen und insbesondere der türkischen Sichtweise auf westlicher Seite leistet die Publikation einen wichtigen Beitrag zur internationalen Dimension des Koreakrieges. Lob verdient auch der Versuch, den Blickwinkel auf die kommunistischen Streitkräfte zu erweitern.
Insgesamt leistet Oliver Heyn ausgesprochene Pionierarbeit und bringt eine vergessene Schlacht in einem wenig in der Historiographie präsenten Konflikt in Erinnerung. Mangels vergleichbarer Schilderungen zur betreffenden Schlacht am Cheongcheon kann diese Analyse auch aus einer internationalen Perspektive für die Wissenschaft als vorbildlich gelten.
Angelo Wiesel