Karsten Linne: Die Bruderschaft der 'Entwickler'. Zur Etablierung der Entwicklungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1956 bis 1974, Göttingen: Wallstein 2021, 648 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3977-4, EUR 42,00
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Die Frage nach dem Wie und Warum der deutschen Entwicklungspolitik ist nicht nur eine wichtige Debatte der Gegenwart, sondern hat in den letzten Jahren auch die Geschichtswissenschaft beschäftigt, die sich besonders mit der Anfangsphase der bundesdeutschen Entwicklungszusammenarbeit auseinandergesetzt hat. Auf diesem Forschungsgebiet legt Karsten Linne mit "Die Bruderschaft der 'Entwickler'" nun eine Monografie vor, die das Thema nicht chronologisch erschließt, sondern der "Vielfalt der beteiligten Institutionen [als] Spezifikum bundesdeutscher Entwicklungspolitik" (335) Rechnung trägt, indem er sich auf die individuellen und kollektiven Akteure der frühen westdeutschen Entwicklungszusammenarbeit konzentriert und anhand dieses akteurszentrierten Ansatzes die Entstehung eines völlig neuen Politikfeldes nachzeichnet. Dazu behandelt er in den zwölf Kapiteln die unterschiedlichen entwicklungspolitischen Akteure und Organisationen - inklusive des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und dessen gradueller Kompetenzausweitung - und geht dabei der Frage nach, welche Prägungen, Erfahrungen und Ideen die Politiker, Beamten, und Wissenschaftler in den Aufbau der institutionalisierten bundesdeutschen Entwicklungszusammenarbeit einbrachten.
Kernstück des Buches ist das fast 300 Seiten starke kollektivbiografische dritte Kapitel, in dem die nach Linnes Einschätzung 27 bedeutendsten Personen einzeln vorgestellt werden. In einem anschließendem Zwischenfazit beschreibt Linne diese Akteure als eine "zusammengewürfelte Gruppe, die sich aus unterschiedlichen Richtungen und Motiven zusammenfand, dann aber eine erstaunliche Kohärenz in Denken und Handeln entwickelte" (331) und gerade in Abgrenzung zu den anderen, mit dem BMZ stets um Kompetenzen konkurrierenden, Ministerien schnell einen eigenen "Korpsgeist" (471) herausbildete. Trotz ihrer so unterschiedlichen biografischen Hintergründe teilten sie gemeinsame Erfahrungen und Prägungen. Dazu gehörten besonders die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges - sei es als Soldat, Verwaltungsbeamter, Kriegsgefangener oder als Exilant -, Reisen ins Ausland oder kirchliches und gesellschaftliches Engagement. Schließlich geht Linne noch auf die NS-Belastung der vorgestellten Personen ein, die gemessen am Kriterium der NSDAP-Parteimitgliedschaft im Vergleich zur Gesamtbevölkerung "recht hoch" (334) war, auch wenn dieser Befund leider nicht mit jenen anderer Bundesministerien, zu denen bereits Studien vorliegen, verglichen wird.
Anschließend an die Biografien werden auf erfreulich breiter Quellengrundlage die einzelnen gesellschaftlichen Akteure mit ihren unterschiedlichen Ansätzen und Schwerpunkten behandelt. Dadurch wird ein bisher in dieser Breite nicht dagewesener Überblick über die im Bereich der Entwicklungshilfe tätigen Vereine, Stiftungen, Netzwerke gegeben, der den in der Forschung üblichen Fokus auf das BMZ und die Kirchen gewinnbringend ergänzt. Nach einer theoretischen Reflexion des Politikfeldkonzepts setzt sich Linne im fünften Kapitel mit der Genese der Entwicklungshilfe als neuem Politikfeld auseinander. Als dessen Besonderheit wird dabei herausgestellt, dass hier nicht nur innergesellschaftliche Interessen verhandelt wurden, sondern dass auch die Interessen der Entwicklungsländer sowie eigene moralische Ansprüche in die politische Kalkulation einbezogen werden mussten.
In der Schlussbetrachtung ordnet Linne die Entwicklung der Entwicklungspolitik in den Kontext umfassenderer historischer Prozesse in der Bundesrepublik, nämlich der "Fundamentalliberalisierung" und der "Westernisierung" (563) ein. Es folgen - passend zum kollektivbiografischen Ansatz - ein hilfreiches Personenregister sowie ein umfangreiches, aber unübersichtliches Literaturverzeichnis.
Allerdings ist das Buch nicht frei von vor allem konzeptionellen Schwächen. So ist die Gliederung nur schwer nachvollziehbar und behindert das Verständnis, etwa wenn die Tätigkeit der jeweiligen Minister auf drei verschiedene Kapitel ("Die Akteure", "Entwicklung des BMZ" und "Reale Politik") aufgeteilt wird. Ebenso negativ fällt die sehr unterschiedliche Gewichtung der Kapitel auf, da bedeutenden kollektiven Akteuren wie etwa den Kirchen und der Wirtschaft nur etwa so viel Platz eingeräumt wird wie der Biografie eines einzelnen Beamten oder Wissenschaftlers. Weiterhin sind die 27 Biografien, die mehr als die Hälfte des Buches ausmachen, deutlich zu umfangreich und lassen stellenweise den Bezug zur Entwicklungspolitik vermissen, zum Beispiel, wenn auf die berufliche Tätigkeit des Großvaters eines BMZ-Beamten (147) oder auf die Rezeption eines fast 30 Jahre vor dem Untersuchungszeitraum veröffentlichten Artikels zur Branntweinwirtschaft (241) eingegangen wird.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die Akteure zwar ausführlich einzeln vorgestellt werden, Linne dabei jedoch kaum auf ihr gemeinsames Wirken und ihre Interaktionen, die schließlich die "Bruderschaft" ausmachten, eingeht. Stattdessen scheint die "Bruderschaft" nur aus der Summe ihrer Einzelteile zu bestehen. Auch insgesamt fehlt dem Buch eine durchgängige übergeordnete Erzählung, sodass eher der Eindruck eines Flickenteppichs aus Einzelbiografien entsteht.
So bleibt das Buch über weite Strecken ausschließlich deskriptiv, eine tiefergehende Analyse wird im Grunde nur in den beiden knappen Zwischenfazits versucht. Außerdem lässt der Autor häufig eigene Wertungen vermissen, zum Beispiel, wenn er zwei verschiedene Forschungsmeinungen zum "Mythos Eppler" (553) wiedergibt, jedoch nicht auf Grundlage seiner Recherchen zu einem eigenen Urteil kommt. Die in Teilen fehlende Eigenständigkeit zeigt sich auch darin, dass gerade im zweiten Kapitel ("Die Vorgeschichte") ganze (Ab-)Sätze aus anderen Publikationen Wort für Wort übernommen wurden. [1]
Schließlich bleibt ein gemischter Gesamteindruck, da Linnes Studie zwar eine neue Perspektive auf die frühe bundesdeutsche Entwicklungszusammenarbeit eröffnet, jedoch wegen konzeptioneller Schwächen deutlich hinter den Möglichkeiten dieses akteurszentrierten Ansatzes zurückbleibt. Aufgrund der nur oberflächlichen Analyse und der fehlenden durchgängigen Erzählung bleiben verallgemeinerbare Erkenntnisse zur Geschichte der bundesdeutschen Entwicklungspolitik Mangelware. Für die Forschung zu einzelnen Personen und Organisationen ist das Buch aber ein guter Ausgangspunkt und bietet somit auch einen Mehrwert für die weitere historische Forschung.
Anmerkung:
[1] Beispielhaft sei hier der erste Absatz auf Seite 43 genannt. Im Original bei: Michael Bohnet: Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik. Strategien, Innenansichten, Zeitzeugen, Herausforderungen, Konstanz / München 2015, 30.
Aaron Fleuth