Tomá Klír / Vít Boček / Nicolas Jansens (eds.): New Perspectives on the Early Slavs and the Rise of Slavic. Contact and Migration, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2020, 353 S., ISBN 978-3-8253-4707-9, EUR 54,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Sebastian Brather: Archäologie der westlichen Slawen. Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im früh- und hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa, Berlin: De Gruyter 2001
Joachim Lerchenmüller: Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift " Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland", Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2001
Michael Müller-Wille: Zwischen Starigard/Oldenburg und Novgorod. Beiträge zur Archäologie west- und ostslawischer Gebiete im frühen Mittelalter, Neumünster: Wachholtz Verlag 2011
Herkunft, Genese und Ausbreitung der Slawen geben nach wie vor Rätsel auf. Der rumänisch-amerikanische Archäologe Florin Curta hat vor nunmehr zwei Jahrzehnten auf die einschlägigen Fragen eine innovative Antwort zu geben versucht, die er soeben unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich geführten Debatten und neuen Forschungserträge aktualisiert hat. [1] Die traditionelle Ansicht geht bekanntlich davon aus, dass sich aus Bevölkerungsgruppen, die als "protoslawisch" bezeichnete Dialekte sprachen, eine zusammenhängende ethnisch-kulturelle Gemeinschaft geformt hat, die im 5. Jahrhundert in Bewegung geriet, aus ihrem relativ kleinen und isolierten Wohngebiet, das zumeist nordöstlich der Karpaten vermutet wird [2], aufbrach und im Zuge ihrer Wanderung nahezu das gesamte östliche Europa extrem rasch "slawisiert" hat. Demgegenüber betrachtet Curta slawische Ethnizität als das Produkt komplexer sozio-kultureller und demografischer Vorgänge, die sich ursprünglich entlang der nördlichen Grenze des byzantinischen Reiches abgespielt haben. Ihm zufolge waren es die Byzantiner (beziehungsweise ihre Geschichtsschreiber), die die "Slawen" als eine ethnische Gemeinschaft "erfunden" oder "konstruiert" haben. [3]
Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes halten beide skizzierten Positionen als "one-sided versions" heute für "untenable" (9). Mit den von ihnen versammelten zwölf Beiträgen von in den USA, Deutschland, Finnland, Polen und Tschechien arbeitenden Archäologen, Slawisten, Historikern, Religionswissenschaftlern, Anthropologen und Archäogenetikern wollen sie die Diskussion um neue, aus der interdisziplinären Zusammenarbeit gewonnene methodologische und empirische Einsichten bereichern, die idealerweise zur Erarbeitung eines Szenarios führen, das die wahrscheinlichste Erklärung für die rasche Ausbreitung des Slawischen bietet. Im Einzelnen argumentiert Henning Andersen, dass sich der gemeinslawische Dialekt nicht erst in der Awarenzeit, sondern bereits lange vor dem Jahr 500 ausgebildet hat; Harald Bichlmeier zeigt, dass die neuesten Einblicke in die alteuropäische Hydronymie weitaus komplexere und widersprüchliche Ethymologien liefern und manche ältere, vermeintlich feststehende Einsicht auf diesem Gebiet revidiert werden muss; Felix Biermann bestätigt anhand der elbslawischen Gebiete im heutigen Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg die Einwanderungsthese; Vít Boček diskutiert die Entwicklung und Funktion des Slawischen als einer koiné oder lingua franca beziehungsweise das unterschiedliche Verständnis, das einzelne Sprachwissenschaftler und Archäologen (Omeljan Pritsak, Florin Curta, Horace G. Lunt, Johanna Nichols, Georg Holzer) mit diesen Begriffen verbinden; Andrii Danylenko fragt in seinem Überblick über finno-ugrische Substrate im Nordrussischen (ohne eindeutige Antworten), inwieweit einzelne Übereinstimmungen das Ergebnis von tatsächlichen Kontakten oder von unabhängigen Innovationen waren; Jiří Dynda macht auf die großen Schwierigkeiten aufmerksam, die sich bei der Deutung slawischer gentilreligiöser Glaubenspraktiken anhand der allein verfügbaren literarischen Konstruktionen nichtslawischer, christlicher Beobachter ergeben; Jadranka Gvozdanović ("Evaluating Evidence on Slavic Migrations") stützt nach Sichtung der archäologischen, historischen und linguistischen Evidenz nachdrücklich die Migrationsthese; Jadranka Gvozdanović und Váca Blažek erörtern 20 kelto-slawische Wortparallelen und zeigen, dass die wahrscheinlichen Entlehnungen des Slawischen aus dem Keltischen in erster Linie das Alltags- und Sozialleben sowie die militärische Terminologie betrafen; Tomaš Klír analysiert die frühen Zeugnisse des slawisch-germanischen Sprachkontakts im nördlichen Bayern und kommt dabei zu dem Schluss, dass das Slawische in der Region nicht vor dem zweiten Drittel des 8. Jahrhundert aufgetreten sei, sich die zuwandernden Sprecher des Slawischen sowohl in unbewohnten als auch bewohnten Teilen des untersuchten Gebietes niedergelassen hätten, die dort gefundene ältere, in die Zeit von um 600 bis 750 datierte Keramik, die mitunter als "slawisch" bezeichnet wird, germanisch/frühgermanischen Sprechern zugeordnet werden müsse und die Verwendung der slawischen Sprache nicht notwendigerweise ein "marker of Slavic ethnicity" (258) gewesen sei; Jouko Lindstedt und Elina Salmela kombinieren die These des Sprachwechsels als der Triebfeder der raschen Ausbreitung des Slawischen mit Ergebnissen der historischen Gen-, Klima- und Epidemiologie-Forschung und vertreten die Ansicht, dass sich ein rapides demografisches Wachstum, Bevölkerungsvermischungen und Sprachwechsel nicht ausschließen müssen, die lange Homogenität des Slawischen aber nicht seiner lingua franca-Funktion zugeschrieben werden könne, vielmehr einem "Gründer-Effekt" zu verdanken sei, da das Proto-Slawische ursprünglich tatsächlich "ein kleiner baltischer Dialekt mit wenig innerer Variation" gewesen sei (275) und es längere Zeit gedauert habe, bis sich daraus die einzelnen slawischen Sprachen entwickeln konnten; Nad'a Profantová und Martin Profant halten in ihrer Untersuchung von ausgewählten Keramik- und Siedlungszeugnissen der so genannten Prag-Korčak-Kultur an der hergebrachten These von einer einheitlichen frühslawischen Kultur fest, die auch die Verwendung des Ethnonyms "Slawen" als eines methodisch uneingeschränkt geeigneten Begriffs rechtfertige; Jiří Rejzek schließlich weist aus linguistischer Perspektive die "provokativen Ansichten" Curtas zurück, der Ursprung und Entwicklung des Slawischen seiner Meinung nach nicht zu erklären vermöge und die große Nähe des Slawischen zu den baltischen Sprache übersehe (343).
Alles in allem bietet der Sammelband einen hervorragenden Einblick in den neuesten Stand der Debatte über Herkunft, Genese und Ausbreitung des Slawischen beziehungsweise der "Slawen", auch wenn nach Lektüre der Beiträge "the most probable scenario for the spread of Slavic" (9) dem Leser noch keineswegs so klar vor Augen steht, wie dies die Herausgeber wünschen.
Anmerkungen:
[1] Florin Curta: Slavs in the Making. History, Linguistics and Archaeology in Eastern Europe (ca. 500 - ca. 700), London / New York 2021.
[2] Ein jüngstes Beispiel der Suche nach der "Urheimat" (in diesem Fall im Steppengebiet nördlich des Schwarzen Meeres) bietet: Tomasz Jasiński: Rozważania o praojczyźnie Słowian [Überlegungen zur Urheimat der Slawen], in: Historia Slavorum Occidentis (2020), 2 (25), S. 11-90; Tomasz Jasiński: Betrachtungen zur Urheimat der Slawen, in: Quaestiones Medii Aevi Novae 25 (2020), S. 5-45.
[3] Florin Curta: The Making of the Slavs. History and Archaeology of the Lower Danube Region, c. 500-700, Cambridge 2001.
Eduard Mühle