Joachim Bahlcke / Jiří Just / Martin Rothkegel (Hgg.): Konfessionelle Geschichtsschreibung im Umfeld der Böhmischen Brüder (1500-1800). Traditionen - Akteure - Praktiken (= Jabloniana. Quellen und Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit; Bd. 11), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, 668 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-447-11709-8, EUR 120,00
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Joachim Bahlcke: Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit, München: Oldenbourg 2012
Joachim Bahlcke / Wolfgang Matt (Hgg.): Die autobiographischen Aufzeichnungen des schlesischen Theologen Friedrich Lucae (1644-1708). Eine Textedition zur Geschichte des reformierten Protestantismus in Europa, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022
Joachim Bahlcke / Dan Gawrecki / Ryszard Kaczmarek (Hgg.): Historia Górnego Śląska. Polityka, gospordarka i kultura europejskiego regionu, Gliwice: Dom Współpracy Polsko-Niemieckiej 2011
Wie vollzog sich die Formierung der Brüderunität von einer spätmittelalterlichen Glaubensgemeinschaft zu einer frühneuzeitlichen Konfessionsgemeinschaft? Ein in dieser Sache Aufschluss versprechendes Quellencorpus bilden die von brüderischen Bischöfen im 16. Jahrhundert angelegten und in 14 Handschriftenbänden in überwiegend tschechischer Sprache vorliegenden Acta Unitatis Fratrum.
Sie enthalten neben Schriften und Briefen der Böhmischen Brüder auch gegnerische Positionen sowie Berichte über konfessionelle Kontroversen bzw. kirchenpolitische Ereignisse im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Königreich Böhmen. Als "eines der umfangreichsten und aufwendigsten Projekte konfessioneller Erinnerungskultur im östlichen Mitteleuropa der Frühen Neuzeit" (11) dokumentieren die Acta Unitatis Fratrum nicht nur die Entwicklung der Brüderunität von ihren Anfängen an, sie überliefern auch Artikulationsprozesse von Selbst- und Fremdwahrnehmung, deren Rekonstruktion Rückschlüsse auf frühneuzeitliche Konfessionsbildungsprozesse nicht nur in der Brüderunität erlaubt.
Angesichts ihres außerordentlichen Quellenwerts für die historische Forschung sind neuerliche Bemühungen um eine umfassende wissenschaftliche Erschließung der handschriftlich vorliegenden Textbestände besonders erfreulich. [1] In sie ist auch der anzuzeigende Band einzuzeichnen. Er verdankt sich einer 2018 in Prag veranstalteten interdisziplinären Tagung, die "den Entstehungsbedingungen und Traditionen der brüderischen Geschichtsschreibung, aber auch den Prozessen und Zeugnissen historiographischer Selbstvergewisserung anderer konfessioneller Minderheiten in Ostmitteleuropa vom 16. bis 18. Jahrhundert gewidmet war" (9).
Der Band versammelt eine stattliche Anzahl durchgehend gehaltvoller Studien, welche die Geschichtsschreibung der Brüderunität für sich und in Zusammenhang mit der Historiographie anderer konfessioneller Minderheiten in den Blick nehmen und so Traditionszusammenhänge, Analogien und spezifische Unterschiede erhellen.
Eine auf das Vorwort der Herausgeber (9) folgende Einführung (11-33) informiert zunächst über die Autoren und Entstehungsumstände sowie die Überlieferung und historiographischen Intentionen der Acta Unitatis Fratrum, wodurch deren Quellenwert dem Leser pointiert vor Augen geführt wird. Ein anschließender Überblick über die Fragestellungen der einzelnen Beiträge klärt über deren inhaltlich-thematische Anordnung auf und trägt zusätzlich zur Orientierung im Band bei. Die lesefreundliche Gestaltung des Textes und die Tatsache, dass jedem Beitrag englische und tschechische Zusammenfassungen beigegeben sind, ermöglichen einer internationalen Leserschaft eine gewinnbringende Lektüre.
Die insgesamt 20 deutschsprachigen Beiträge sind vier unterschiedlich umfangreichen Bereichen zugeordnet.
Den Auftakt macht ein umfassender Aufsatz von Norbert Kersken (37-91), der einen breit angelegten und für die weitere Lektüre aufschlussreichen Überblick über die historiographischen Kontexte und spezifischen "Strukturen der konfessionellen Geschichtsschreibung im östlichen Mitteleuropa" gibt und damit den ersten Themenbereich füllt.
Es folgen neun Studien, die die "Erinnerungskultur und Historiographie der Alten Brüderunität bis zur Schlacht am Weißen Berg bei Prag" (93) - so die Überschrift des zweiten thematischen Blocks - in den Fokus rücken. Zwei Studien seien hier hervorgehoben, die in Bezug auf die eingangs gestellte Frage nach der Konfessionsbildung in der Brüderunität besondere Einsichten liefern: Die Studie von Jiři Just (95-150) "analysiert die Beweggründe, die in der Unität Mitte des 16. Jahrhunderts zu einer intensiven Beschäftigung mit der eigenen Geschichte führten" (27). Dabei wird zum einen deutlich, dass die Historiographie der Böhmischen Brüder "in einem Netzwerk von Beziehungen" entstand (143). Zum anderen begannen die Brüder "[e]rst in der Begegnung mit der europäischen Reformation des 16. Jahrhunderts [...] ihre eigene Geschichte in einem weiteren Horizont wahrzunehmen und zu reflektieren" (144). Dass konfessionelle Formierungsprozesse stets mit Frontbildungen und -verschiebungen einhergehen, belegt eindrücklich die Studie von Jindřich Halama (197-212), welche die im IV. Band der Acta Unitatis Fratrum beschriebenen Konflikte innerhalb der Brüderunität vor dem Auftreten Luthers analysiert, die demzufolge als "Vorbereitung auf die Reformation" (211) zu stehen kamen. In sprachwissenschaftlicher bzw. hymnologischer Perspektive untersuchen die brüderische Geschichtsschreibung die Beiträge von Ludger Udolph (151-163), Astrid Winter (165-195) und Eliška Baťová (213-229). Die Aufsätze von Veronika Sladká (231-261) und Tomáš Knoz (263-281) sind sodann der brüderischen Geschichtskultur sowie deren institutionellen Voraussetzungen gewidmet. Der darauf folgende Beitrag von Claudia Mai (283-281) befasst sich mit der Wiederentdeckung und Erforschung der Acta Unitatis Fratrum seit dem 19 Jahrhundert, bevor sich die Studie von Andreas Fritsch (301-320) anschließend der Geschichtsdarstellung der Brüderunität von Joachim Camerarius d.Ä. zuwendet, welche die Brüderunität zwar in Auftrag gegeben hatte, letztlich aber nie approbierte, da sie darin offenbar in erster Linie als eine der Wittenberger Reformation und ihrem Bekenntnis nahestehende Glaubensgemeinschaft dargestellt wird.
Die dritte Gruppe von Aufsätzen umfasst Fallstudien zur Historiographie und konfessionellen Memoria von Glaubensgemeinschaften in der Minorität im Umfeld der Brüderunität: Maciej Ptaszyński analysiert mittels Andrzej Węgierskis Reformationsgeschichte (323-347), "wie im 17. Jahrhundert das neue und eigene Geschichtsbild der reformierten Kirche zustande kam, welche historischen Elemente Verwendung fanden und wer diese aus welchem Interesse und zu welchem Zwecke nutzten" (323). Darüber hinaus werden mit den Beiträgen von Mihály Balázs (349-369), Gizella Keserü (371-396), Martin Rothkegel (397-451) und Pavel Sládek (453-478) die konfessionelle Geschichtsschreibung der siebenbürgischen Unitarier, der frühen Antitrinitarier in Ungarn und Polen, bei den Hutterischen Brüdern sowie beim jüdischen Geschichtsschreiber Tzemach David in den Blick genommen.
Der vierte Bereich versammelt Studien zur Historiographie der Brüderunität im 17. und 18. Jahrhundert. Tomáš Havelkas Aufsatz (481-506) ist der Rezeption von Johannes Lasitius' Geschichtswerk Historia de origine et rebus gestis Fratrum Bohemicorum durch Johann Amos Comenius gewidmet. Der Beitrag Marie Škarpovás (507-534) ordnet sodann die als Gemeinschaftswerk im Umfeld der Brüderunität entstandene Historia persecutionem ecclesiae Bohemicae in die Märtyrermemoria der Frühen Neuzeit ein und befragt sie auf ihr identitätsstiftendes Potential hin. Im Anschluss daran würdigen die Studien von Joachim Bahlcke (535-588) und Siglind Ehinger (589-610) die Darstellungen der Brüderunität in den Geschichtswerken von Daniel Ernst Jablonski bzw. von Georg Konrad Rieger. Der Aufsatz Zdeněk R. Nešpors (611-643) arbeitet zu guter Letzt heraus, dass das Interesse der modernen tschechischen Historiographie an der Brüderunität auch und nicht zuletzt vor dem Hintergrund nationalpolitischer Legitimationsbestrebungen zu sehen ist. Den Abschluss bildet ein Anhang mit einem Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiterverzeichnis sowie einem Personen- und Ortsregister.
Mit seinen anregenden Untersuchungen in erfreulich hoher Qualität leistet der Band zweifellos einen ausgesprochen wichtigen Beitrag zur Erschließung der Acta Unitatis Fratrum und ihrer Einordnung in die konfessionelle Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit. Eine über die engeren Expertenkreise hinaus reichende Rezeption ist ihm deshalb sehr zu wünschen.
Anmerkung:
[1] Siehe das interdisziplinär angelegte Projekt zur Herausgabe von Regestenbänden, die alle Texteinheiten der Acta Unitatis Fratrum durch ausführliche Einleitungen, Zusammenfassungen und Register erschließen. Bislang erschienen ist Band 1: Regesten der in den Handschriftenbänden Acta Unitatis Fratrum I-IV überlieferten Texte (bearbeitet von Joachim Bahlcke, Jindřich Halama, Martin Holý, Jiří Just, Martin Rothkegel und Ludger Udolph) (Acta Unitatis Fratrum. Dokumente zur Geschichte der Böhmischen Brüder im 15. und 16. Jahrhundert. Band 1), Wiesbaden 2018.
Christine Schoen