Josiah Ober: The Greeks and the Rational. The Discovery of Practical Reason (= Sather Classical Lectures; Vol. 76), Oakland: University of California Press 2022, XXIII + 455 S., 26 s/w-Abb., 5 Tbl., ISBN 978-0-5203-8016-5, USD 34,95
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Okko Behrends: Zur römischen Verfassung. Ausgewählte Schriften. Hgg. von Martin Avenarius und Cosima Möller, Göttingen: Wallstein 2014
Rolf Rilinger: Ordo und dignitas. Beiträge zur römischen Verfassungs- und Sozialgeschichte. Hrsg. v. Tassilo Schmitt und Aloys Winterling, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007
Josiah Ober: Athenian Legacies. Essays on the Politics of Going on Together, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2005
Josiah Ober: The Rise and Fall of Classical Greece, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2015
Kurt A. Raaflaub / Josiah Ober / Robert W. Wallace: Origins of Democracy in Ancient Greece, Oakland: University of California Press 2007
Josiah Obers neuestes Buch, die Ausarbeitung von 2019 vorgetragenen "Sather Classical Lectures", stellt einen weiteren Baustein seines über mehrere Monographien verfolgten Projektes dar, Denken und politische Praxis der antiken Griechen mit Hilfe moderner sozialwissenschaftlicher, auch entscheidungs- und spieltheoretischer Theorieangebote für eine posthumanistische Gegenwart kommensurabel zu machen und dabei zugleich als Historiker die Hellenen besser verstehen und erklären zu können. Der Titel rekurriert auf E. R. Dodds' bahnbrechendes Buch "The Greeks and the Irrational", 1959 hervorgegangen aus der gleichen Vorlesungsreihe. Ober seinerseits rückt - unter Verweis auf Xen. mem. 3,9,4 - "instrumental (means to ends) rationality" in den Vordergrund, also die zweckhaft auf das Erreichen von erstrebten Zielen gerichtete Vernunft. Er benutzt dabei moderne Begriffe und Verfahren, um diese Vernunft in antiken Texten von Homer bis Plutarch aufzufinden. Als Leitstern dient hierbei Platons Politeia: Jedes Kapitel beginnt mit einer einschlägigen Szene und entwickelt das Argument aus deren Exegese.
Mit der Frage nach zweckrationalem Handeln durchmustert Ober geläufige Felder, die durch seine Perspektive teilweise neu konturiert werden. Es geht um die Entstehung sozialer Ordnungen und nachhaltiger sozialer Kooperation unter eigennützigen Individuen, ferner um politische Autorität, sowohl in der Monarchie wie in der bürgerstaatlich-partizipatorischen Ordnung Athens. Demokratisches Entscheiden stellt in gewisser Weise den Lackmustext für das gesamte Modell dar; Ober vergisst darüber jedoch nicht die zwischenstaatliche Politik und rationales wirtschaftliches Handeln im Kontext entwickelter Staaten.
Die sog. "Folk-theory" zweckrationalen Handelns, eine Art stabiles common sense-Verständnis eigennützig-erfolgreichen Tuns, profiliert Ober im ersten Kapitel mit Platons Thrasymachos zu Beginn der Politeia und spitzt sie zu mit der platonischen Variante der Geschichte um Gyges, der durch Unsichtbarkeit seine individuellen und eigennützigen Präferenzen ausleben kann. Kapitel 2 befasst sich mit sozialen Dilemmata, insbesondere mit der Frage, wie unter selbstbezogenen Individuen eine nützliche soziale Ordnung entstehen und dauern kann. Kooperation war für das menschliche Überleben offenbar unabdingbar (siehe den Protagoras-Mythos, 120-127), stellte angesichts von Eigeninteresse und strategischem Denken jedoch auch ein Problem dar. Ober kann überraschend präzise, wenn auch unmathematisch ausgedrückte spieltheoretische Überlegungen griechischer Autoren über Einsätze und Auszahlungen herauspräparieren. Kapitel 3 führt von der sozialen Ordnung zur Frage der politischen Herrschaft und des Regierens, die im Kontext großer und komplexer Gemeinwesen dringlich wird. Ober bietet hier interessante Interpretationen bekannter Passagen (Herodot: Deiokes-Geschichte; die persische "Verfassungsdebatte"; Polybios: Transformationen der Monarchie).
Kapitel 4 befasst sich mit der Herrschaft eines Kollektivs aus Bürgern, beginnend mit Solons Suche nach einer verhandelbaren Lösung für das Problem der Ordnung in einer durch Ungleichheit polarisierten und von Unfrieden bedrohten Gemeinde. Den Umbruch zur Demokratie sieht Ober im Sinne eigener früherer Arbeiten in der athenischen Revolution während der Machtkämpfe nach der Vertreibung der Tyrannen manifestiert: Sowohl der Demos als auch die aristokratischen Anführer hätten sich am Ende als fähig erwiesen, als rationale Akteure zu handeln und angesichts der Ungewissheit zu einer künftigen Zusammenarbeit zu kommen. Thukydides habe in der Führung, die sich in fachkundiger Risikoeinschätzung und rhetorischem Geschick niederschlug und öffentliche Güter zu mobilisieren vermochte, eine Erklärung für den Aufstieg Athens bis Mitte des fünften Jahrhunderts gesehen.
Kapitel 5 handelt von der Rationalität in zwischenstaatlichen Beziehungen, wobei Ober neben Nullsummenkonflikten auch Positivsummenverhandlungen untersucht. Dem athenischen Reich stellt Ober - wie schon in "The Rise and Fall of Classical Greece" [1] - ein eher gutes Zeugnis aus: Die Zusammenarbeit zwischen ungleichen Staaten habe bei den Beteiligten auf kalkulierten Kosten und Vorteilen wie auch auf Furcht und Eigeninteresse beruht. Die Grenzen und das Scheiternspotential blendet Ober - mit Thukydides - selbstverständlich nicht aus und bespricht die Mytilene-Affäre ebenso wie die Behandlung der Melier.
In Kapitel 6 stellt der Autor politische Theorie und historische Praxis einander gegenüber. So kritisierte Platon zwar die Demokratie, da das Streben nach Freiheit und Gleichheit oftmals zu einer instabilen Rangfolge der verfügbaren Optionen führe. Zugleich habe Platon jedoch die Fähigkeit des athenischen Demos anerkannt, vertrauenswürdige Experten in verschiedenen, für den materiellen Wohlstand relevanten Feldern zu identifizieren und sich mit deren Hilfe auf die beste verfügbare Option zu einigen. Das Athen des 4. Jahrhunderts sei geradezu ein Modell für ein instrumentell rational agierendes Gemeinwesen mit stabilen, dabei revisionsfähigen und anpassungsfähigen Regeln gewesen. Die Rationalität des Staates habe es den Bürgern ermöglicht, ihre jeweils eigenen Ziele zu verfolgen und gleichzeitig die öffentlichen Güter Sicherheit, Wohlfahrt und Freiheit von Tyrannis zu erhalten.
Kapitel 7 kehrt zu den Beziehungen zwischen Individuen zurück, nunmehr im Bereich des Materiellen und der Wirtschaft, beginnend mit der Ilias, die ein Paradebeispiel für das Scheitern von Kooperationen und für kostspielige Konflikte um die Verteilung von Gütern darstelle. Die Alternative war ein für beide Seiten vorteilhafter Austausch. Gegen die Annahme neoklassischer Ökonomen, allein die Existenz offener Märkte könne einen effizienten Austausch zwischen Individuen generieren, sei von den Griechen zu lernen, dass eine dauerhafte und effiziente Zusammenarbeit Regeln erfordere, die sich gleichsam selbst durchsetzen. Wirtschaftliche Rationalität und die von ihr ermöglichten Effizienzsteigerungen drohten jedoch, wie u.a. Sokrates erkannt habe, die zwischenmenschlichen Beziehungen zu korrumpieren, indem sie den Nutzen auf den materiellen Gewinn reduzierte und das willentliche Handeln von der Tugend entkoppelte.
Hier sowie in den "Conclusions" ("Utility and Eudaimonia") bezieht Ober die eingangs seines Buches im Sinne der Klarheit des Arguments zunächst bewusst ausgeklammerte Frage nach der ethischen Dimension der Vernunft ein, also die philosophisch zentrale Frage, welche Ziele nicht nur im Sinne der Folk-theory existieren, sondern als objektiv, weil rational begründet 'gut' gelten könnten und daher erstrebenswerter als nur Wohlstand, Lust, Sicherheit usw. seien. Die klassischen Sokratiker betonten, so Ober zutreffend, die Bedrohung der ethischen Vernunft durch den Instrumentalismus, vor allem im Bereich der Freundschaft. Sie erkannten aber auch, dass rationales Streben nach Eigeninteresse ein unabdingbarer Aspekt der praktischen Vernunft und daher eine wesentliche Grundlage für das menschliche Wohlergehen ist. Die griechische Tradition zeige, so Obers, auch für die Gegenwart relevantes Fazit, dass instrumentelle Rationalität die Grundlage für normativ anspruchsvolle, dabei zugleich robuste und nachhaltige Systeme der sozialen Kooperation sein kann.
Das Buch ist anspruchsvoll, wiewohl Ober seine Argumentation geduldig und in einiger Breite entwickelt. Graphische Optionsbäume zu den Fallstudien erleichtern das Verständnis, Detaildiskussionen sind in die ihrerseits gewichtigen Fußnoten ausgelagert. Auf höchstem intellektuellen Niveau kann der Autor erneut plausibel machen, dass "Greek thinkers may [...] be more 'like us' than is allowed by recent classical scholarship or by a long tradition of political and ethical theory" (14f.). Jenseits des neue Perspektiven weisenden Gesamtentwurfs kann das Buch auch als Fundgrube für weiterführende Lektüren zentraler antiker Texte gelesen werden, wenn etwa die Erinyen in Aischylos' Eumeniden von Racheautomaten zu rational entscheidenden Akteuren werden und am Ende alle Beteiligten gewinnen.
Anmerkung:
[1] Dazu Rezension: http://www.sehepunkte.de/2016/06/27305.html.
Uwe Walter