Rezension über:

Birgit Mersmann / Hauke Ohls (Hgg.): Okzidentalismen. Projektionen und Reflexionen des Westens in Kunst, Ästhetik und Kultur (= Image; Bd. 210), Bielefeld: transcript 2022, 325 S., 26 Farb-, 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-6199-6, EUR 45,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Jannick Piskorski
Musikhochschule Lübeck
Redaktionelle Betreuung:
Kerstin Schankweiler
Empfohlene Zitierweise:
Jannick Piskorski: Rezension von: Birgit Mersmann / Hauke Ohls (Hgg.): Okzidentalismen. Projektionen und Reflexionen des Westens in Kunst, Ästhetik und Kultur, Bielefeld: transcript 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/37951.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Birgit Mersmann / Hauke Ohls (Hgg.): Okzidentalismen

Textgröße: A A A

In dem Gemälde Velasquez, Picasso, me and Naseeruddin Shah's wives (2017) schreitet die Künstlerin Simin Keramati in Anlehnung an Diego Velázquez' Las Meninas (1656) aus dem blauen Bildhintergrund ihres Gemäldes zwischen zwei westlichen "Heroen" der Kunstgeschichte: Picasso und Velázquez. Das Bild dient als Umschlagsgestaltung des Sammelbandes Okzidentalismen: Projektionen und Reflexionen des Westens in Kunst, Ästhetik und Kultur und stimmt auf den darin verhandelten Themenkomplex ein.

In der Einleitung legen die Herausgeber*innen ihre Auffassung des Okzidentalismus-Diskurses dar, der auf die 1990er Jahre zurückgeht. In diesem Kontext wird auf Edward Saids Orientalism (1978) referiert, demzufolge der "Westen" seine Identität im Zuge der Abgrenzung vom "Orient" formiert hat. [1] In diesem Sinne beruht Okzidentalismus, wie der Orientalismus, auf Mechanismen der Fremdwahrnehmung und den damit verbundenen Ab- und Ausgrenzungsmechanismen. Dabei wird der Westen selbst zu einem Untersuchungsobjekt, beziehungsweise zum Objekt einer Kritik aus einer nicht-westlichen Perspektive. Okzidentalismus kann als Feindlichkeit gegenüber dem Westen oder auch als ein Prozess der Aneignung westlicher Werte verstanden werden. Der Begriff vereint somit Antagonismus gegen den Westen und dessen Idealisierung.

Die Herausgeber*innen betonen die Pluralität der Okzidentalismus-Begriffe und verfolgen eine Synthese der unterschiedlichen Ansätze und Perspektiven auf das Thema, die sich seit den 1990er und 2000er Jahren entwickelt haben. [2] Gleichzeitig greifen sie eine Kritik an westlichen Machthegemonien auf und verstehen ihre Arbeit als Beitrag zur dekolonialen Überwindung "okzidentalistischer Denk- und Kulturmuster" (16). Die dem Dekolonisierungs-Diskurs implizite Kritik am Westen zeigt sich zum Beispiel in den Aufsätzen von Gabriele Dietze und Julia Roth, die den anti-muslimischen Rassismus in Deutschland als das Produkt eines okzidentalistischen Ethnozentrismus einordnen.

Wie unterschiedlich, sogar konträr, die im Sammelband vertretenen Auffassungen von Okzidentalismus sind, zeigt sich exemplarisch an dem Bezug zu Hassan Hanafi: Während der Aufsatz von Eid Mohamed und Talaat F. Mohamed den emanzipatorischen Okzidentalismus in der post-revolutionären ägyptischen Literatur (nach 2012) mit Bezug zu Hanafi beschreibt, geht Gabriele Mentges auf Distanz zu Hanafis Ansatz, weil sie in diesem eine Reproduktion dualistischer Denkmuster erkennt (184).

Die versammelten Aufsätze weisen eine große regionale Bandbreite auf. Sie behandeln Kunst und Kultur aus China, Indien, Irak, Iran, Japan, Usbekistan, Deutschland, aus der Karibik und aus Nordafrika. Julia Allerstorfer untersucht iranische Gegenwartskunst (281f.) und bezieht sich dabei auf Homi Bhabhas Konzept der Mimikry. Anhand der Werke der iranisch-kanadischen Künstlerin Simin Keramati analysiert Allerstorfer die künstlerische Praxis der Nachahmung westlicher Kunstwerke. In ihrer Serie The Blue Background fügt sich Keramati in historische Momente der Kunstgeschichte ein und portraitiert sich in Anlehnung an die Pop Art neben Berühmtheiten westlicher Kunst wie Andy Warhol, John Lennon und Marina Abramović (274). Allerstorfer zeigt, dass Keramatis Bilder indirekt auf die Exklusionspraktiken des westlichen Kunstkanons verweisen. Durch die Aneignung der im Westen weit verbreiteten Bilder provoziert sie einen Bruch mit der westlichen Erwartungshaltung an eine iranische Künstlerin, was Allerstorfer mit Bezug auf Walter Mignolo als epistemischen Ungehorsam auffasst. [3]

Gabriele Mentges' Beitrag über Mode in Usbekistan untersucht am Beispiel der Funktion von traditioneller Kleidung die Neotraditionalisierung und Nationalisierung mittels vestimentärer Riten und Praktiken seit 1990, in der sich auch die Traditionalisierung von Genderrollen und Reetablierung patriarchaler Strukturen widerspiegelt. Im Gegensatz zu den traditionellen bunten Hochzeitkleidern stehen die weißen Brautkleider, die im post-sowjetischen Zentralasien sowohl mit europäischer als auch mit sowjetischer Kultur assoziiert werden. Die Bräute tragen die weißen Kleider nur für die Hochzeitsfotos. Mentges interpretiert dies in Abgrenzung zu Homi Bhabhas Verständnis von Hybridität als "kulturelle Trennung" (202).

Auch hier wäre der Bezug auf Bhabhas Konzept der Mimikry denkbar. Warum lassen sich die Paare nicht in traditionellem, sondern nur in westlichem Gewand fotografieren? Die Objektivierung, die die Fotografie bewirkt, scheint in einem Bezug zur "fremden" Kultur zu stehen und die Mimikry der westlichen Hochzeitsfotografie erscheint höchst ambivalent. Hier spiegelt sich ein bestimmtes Verhältnis zur sowjetischen Vergangenheit und zur kolonialen Strategie wider, die Bhabha mit dem Konzept der Mimikry beschreibt, nämlich die Strategie der Kolonisatoren, die Bevölkerung in bestimmter Hinsicht anzugleichen, z.B. durch Kleidung, was aber laut Bhabha lediglich dazu führt, dass man ihre Andersartigkeit zur Schau stellt. [4]

Die Mehrzahl der Aufsätze impliziert die Forderung nach einer kritischen Reflexion des universitären Curriculums oder drückt diese direkt aus. Auch wenn der Begriff der Dekolonialisierung nicht im Mittepunkt steht, zieht er sich als roter Faden durch den Sammelband. Dies zeigt sich zum Beispiel im Aufsatz von Rolf Elberfeld, der koloniale Unterwerfungs- und Herrschaftspraktiken in der Geschichtsschreibung, Kunstgeschichte und Philosophiegeschichte im 18. und 19. Jahrhundert (Martin Chladenius, G.W.F. Hegel u.a.) und deren Einfluss auf die Gegenwart beschreibt, um daraus weitreichende, implizit dekoloniale Forderungen zu stellen. Schließlich argumentiert er für ein kritisches Überdenken des wissenschaftlichen Kanons und der von diesen ausgehenden rassistischen Tendenzen, die zur Ausklammerung des außereuropäischen Raums geführt haben (133).

In Erweiterung ihres Beitrages aus dem Sammelband Kritik des Okzidentalismus (2009) analysiert Gabriele Dietze die Geschichte des Rassismus in Deutschland im Sinne einer dekolonialen Bestrebung mit Bezug auf die postkoloniale Theorie und die Critical Whiteness Theory. [5] Okzidentalismus wird von Dietze als ethnonationalistische Selbstverortung aufgefasst, in der die Zugehörigkeit zur Kategorie "deutsch" über die Ab- und Ausgrenzung des "muslimischen" Anderen konstruiert wird. Dietze beschreibt in ihrer Darstellung auch den Antisemitismus in Deutschland, klammert jedoch den Antislawismus aus, obwohl sich auch hier die Geschichte des deutschen Rassismus und die damit verbundenen rassistisch motivierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit von "Weißen" gegen "weiße" Menschen kristallisiert haben.

Die Vielfältigkeit der untersuchten Regionen ist die große Stärke des Buches. Trotzdem fällt das Fehlen einer Perspektive auf das östliche Europa auf, denn bereits vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der sich über ein Feindbild des Westens zu legitimieren versucht, hat es einen Diskurs um die Wahrnehmung des Westens im östlichen Europa gegeben. Dieses Phänomen könnte und sollte ebenso in Bezug auf Okzidentalismen beleuchtet werden.

Den Herausgeber*innen gelingt es, in dem äußerst vielschichtigen Themenfeld von Okzidentalismus neue Impulse zu setzen. Die Gegenüberstellung verschiedener Okzidentalismus-Diskurse ist eine Bereicherung für die kunsthistorische und kulturwissenschaftliche Forschung, durch die die Vielseitigkeit der historischen und geopolitischen Bedingungen zur Herausbildung von Westprojektionen und -reflexionen sichtbar wird.


Anmerkungen:

[1] Said, Edward: Orientalism, New York 1978.

[2] Hanafi, Hassan: Introduction to the Discipline of Occidentalism, Cairo 1991; Carrier, James G. (Hg.): Occidentalism. Images of the West, Oxford 1995; Coronil, Fernando: Beyond Occidentalism. Toward Nonimperial Geohistorical Categories, in: Cultural Anthropology 11 (1996), 51-87; Buruma, Ian / Margalit, Avishai: Occidentalism. The West in the Eyes of its Enemies, New York 2005.

[3] Mignolo, Walter: Epistemic Disobedience, Independent Thought and Decolonial Freedom, in: Theory, Culture & Society 26 (2009), Nr. 7-8,159-181.

[4] Bhabha, Homi: Of Mimicry and Man: The Ambivalence of Colonial Discourse, in: October 28 (1984), Spring, Discipleship: A Special Issue on Psychoanalysis, 125-133, hier zitiert nach 130.

[5] Dietze, Gabriele: Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung, in: Dietze, Gabriele / Brunner, Claudia / Wenzel, Edith (Hrsg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-) Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2009, 23-54.

Jannick Piskorski