Rezension über:

Jasmin Hettinger: Hochwasservorsorge im Römischen Reich. Praktiken und Paradigmen (= Geographica Historica; Bd. 44), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 493 S., 1 Tbl., 9 Kt., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13266-4, EUR 76,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Klaus Freitag
Historisches Institut, RWTH Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Freitag: Rezension von: Jasmin Hettinger: Hochwasservorsorge im Römischen Reich. Praktiken und Paradigmen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/37025.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Jasmin Hettinger: Hochwasservorsorge im Römischen Reich

Textgröße: A A A

Jasmin Hettinger hat sich in ihrer Dissertation, die im Graduiertenkolleg an der Universität Duisburg-Essen "Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln" entstanden ist, mit der Bedeutung und dem Umgang mit Flusshochwasser im Imperium Romanum in der Zeit von Augustus bis Caracalla beschäftigt. Beeindruckend ist die versierte methodisch-theoretische Herangehensweise, die neue Aspekte anspricht und einen Paradigmenwechsel einläutet. Sie nimmt eine konsequente Unterscheidung zwischen Prävention und Hochwasserversorgung vor, die mit aktiven administrativen "Management" zu tun hat.

Im Zentrum der Untersuchung stehen Binnenhochwasser, die durch Flüsse ausgelöst wurden. Das Phänomen wurde bislang vor allem angesichts der negativen Auswirkungen von Flutereignissen rund um den Tiber behandelt von einer historischen Katastrophenforschung unter Einbeziehung der direkten Reaktionen und konkreter Hilfsmaßnahmen untersucht. Hettinger beobachtet eine Vernachlässigung der Beachtung antiker Vorsorgemaßnahmen. Kontingenzerfahrungen wurden - so lautet eine gängige These - in der Antike passiv erlitten und aktive Einflussnahmen hätten keine Bedeutung gehabt, auch weil eine wirksame Vorsorge wegen fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht möglich gewesen sei. Deswegen käme in der Antike der religiösen Sphäre bei der Auseinandersetzung mit einer ungewissen Zukunft so große Bedeutung zu.

Sie bewegt sich weg von Phänomen Hochwasser allein konzentriert auf konkrete Naturkatastrophenereignisse und die Reaktion mit begrenzten Präventionsmaßnahmen hin zu einem Blick auf aktiven, zielgerichteten und vorsorglichen Umgang mit Naturrisiken. Dabei stellt sie sich die vor allem die Frage, was wussten die Menschen über Hochwasser, die als das "außergewöhnlich Normale" (G. Waldherr) in vielen Landschaften der Mittelmeerwelt zum alltäglichen Leben dazugehörten. Eine praxeologische Vorgehensweise wird in Blick genommen, in der nicht nur Hochwasservorsorgemaßnahmen, sondern auch die alltägliche Nutzung von Flutwasser zu Bewässerungszwecken und die Praktiken der Verwaltungs- und staatlicher Planungskontexte Beachtung finden. Jasmin Hettinger orientiert an dem analytischen und interdisziplinären Konzept der "Environmental Coherence", das sowohl die natürliche Dynamik von antiken Flüssen als auch ihre Nutzung und Veränderung durch den Eingriff von Menschen in einer "kulturell umgeformten Umwelt" in den Blick nimmt.

Es folgen allgemeine Bemerkungen zur Erforschung der antiken Umwelt- und Klimageschichte sowie zu Wasserinfrastrukturen, Wasserrecht und zur antiken Raumerfassung. Besonders wird auf die Bedeutung ingenieurstechnischer und geoarchäologischer Arbeiten zur Thematik hingewiesen. Im Folgenden wird geklärt, was man unter "Prävention" und "Risiko" bzw. "Risikomanagement" zu verstehen hat. In einem weiteren einleitenden Kapitel wird ausführlich die heterogene Quellenfrage angesprochen, um zu einer ganzheitlichen Betrachtung des Naturphänomens Hochwasser in römischer Zeit zu gelangen.

Sehr informativ sind auch die Ausführungen zu den Charakteristika von Flusshochwassern im antiken Mittelmeerraum. Differenziert wird auf die unterschiedlichen geographischen und klimatischen Bedingungen und auf sehr verschiedene Hochwasserregime eingegangen, die Flusslandschaften im Imperium Romanum prägten. Gleiches gilt auch für die Bemerkungen zu den unterschiedlichen Beeinträchtigungen der Fluss- und Ufernutzung durch Hochwasser und die negativen und positiven Auswirkungen für die Menschen. Hochwasser konnte die Nutzung von Flüssen einschränken und anderweitig in städtischen Zentren und in ländlichen Gebieten zu Schäden unterschiedlichster Art für die Umwelt, Mensch und Tier führen. Unterschiedliche Maßnahmen mussten getroffen werden, um künftige Schäden zu verhindern. Hochwasser konnten aber auch positive Auswirkungen zeigen, wenn z. B. Flussläufe saisonal durch niederschlagsbedingten Pegelanstieg zeitweise schiffbar wurden.

Im Kapitel II steht die Auseinandersetzung mit "römischen" Diskursen über Hochwasser im Zentrum. Die Verfasserin setzt sich mit den lateinischen Bezeichnungen für Hochwasser auseinander. Auf die Aufarbeitung der entsprechenden Begrifflichkeiten im Altgriechischen wird verzichtet, was insofern ein gewisses Problem darstellt, weil auch in dieser Untersuchung eine Vielzahl von griechischen Quellen heranzogen werden. Dabei wird auf einen Wandel vom neutralen und wenig ausgeprägtes Gefahrenbewusstsein anzeigenden Begriffen wie "aquae magnae" oder "aquarum magnitudo" in republikanischer Zeit zum "problemorientierten" auf ein erhöhtes Risikobewusstsein hindeuteten Begriff "inundatio" verwiesen. So spekuliert die Verfasserin, dass der Begriff "inundatio" zu einem wichtigen Schlagwort wurde, mit dem die Hochwasservorsorge zur Angelegenheit des römischen Princeps wurde. In der Spätantike wird dann vermehrt der Begriff "diluvium" in unterschiedlicher Bedeutung verwendet, der aber auch von früheren Autoren benutzt wurde.

Im nächsten Kapitel stehen die Ausdeutungen des religiösen Umgangs mit Hochwasser im Mittelpunkt des Interesses. Die religiösen Deutungen von göttlichen Warnzeichen und der Versuch ihrer Bewältigung durch Divinationspraktiken und Bittrituale werden ausführlich erörtert. Flüsse wurden als Flussgötter verehrt und die Menschen pflegten ein reziprokes Verhältnis zu ihnen.

Im nächsten Kapitel wird das antike Wissen über die natürlichen Auslöser von Hochwasser in antiken wissenschaftlichen Diskursen und im Rahmen eines Allgemeinwissens diskutiert. Ausführlich werden Nilfluttheorien und das Wissen zu Flutursachen an anderen Flüssen (z. B. Po und Euphrat) angesprochen. Hettinger weist nach, dass man konkrete Vorstellungen davon hatte, wie Hochwasser entstehen und wie sich Wasserregime lokal unterscheiden, auch wenn Niltheorien mit feststehenden Topoi verbunden waren, die auch auf andere Flüsse bezogen wurden. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung der in lateinischen Schriftquellen erwähnten "Speisungsarten der Flusshochwasser" in Italien und den Westprovinzen werden in einer aussagekräftigen Karte zusammengefasst.

Im Hauptteil wird ein umfassendes Bild des rechtlichen, administrativen und technischen Umganges mit Hochwasser in unterschiedlichen Regionen des Imperium Romanum mit einem Blick auf die Alltagspraktiken und ihren wirtschaftlichen, politischen, religiösen und kulturellen Implikationen vorgelegt. Es finden sich ausgezeichnete Einzelanalysen (z. B. zum Fluss Ana in Iberien, zum Mäander in Kleinasien, zum Kopais-Becken in Griechenland), die sich aber alle in den Gesamtrahmen der Untersuchung einfügen. Der alltägliche Umgang von Anwohnern und der zuständigen römischen Administration ist davon geprägt, den allenthalben zu erwartenden Überflutungen mit Maßnahmen zu begegnen, um die potentiellen negativen Folgen abzufedern. Man reagierte auf die Gefahren durch Hochwasser mit Tunneln, Kanälen, Uferbefestigungen, Dämmen, Talsperren, Deichen und Brücken. Mit den einzelnen Maßnahmen und ihrer Zielrichtung, der Wartung von Wasserbauten unterschiedlicher Art und Prozessen des Technologietransfers setzt sich die Verfasserin ausführlich auseinander und das mit einem Blick auf das Imperium Romanum in unterschiedlichen städtischen, extra-urbanen und ländlichen Kontexten.

In einer ausführlichen Synthese werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst: Im Leben der antiken Menschen war die Auseinandersetzung mit Flusshochwasser als saisonale Erscheinung ein Phänomen ihres Alltags. Praktiken zur Flutvorsorge waren in die Nutzung von Flüssen und Uferbereichen einbezogen. Es war Wissen vorhanden, das in unterschiedlichen Diskurse über natürliche und menschlich verursachte Flutursachen zur Kenntnis gebracht wurde. Reale Flutereignisse und ergriffene Schutzmaßnahmen wurden in mythischen Erzählungen und in Sintflutsagen herangezogen und von Generation zu Generation weitergegeben. Es entstanden ein ausgeprägtes Gefahrenbewusstsein und aktive Risikobewältigungstrategien, die in der Umsetzung für praktische Anpassungen sorgten. Der römische Umgang mit Hochwasser ist von einem komplexen Zusammenspiel zwischen kulturellen Praktiken, Technologie und Wissen über Flusslandschaften geprägt. Flüsse wurden intensiv wirtschaftlich genutzt, und man registrierte die negativen und positiven Auswirkungen von Flusshochwasser, die von den unterschiedlichen Interessensgruppen unterschiedlich wahrgenommen wurden und deren konträre Interessen verhandelt werden mussten. Der römische Kaiser und die Eliten gingen vorsorglich mit Hochwasser um und nutzten Wasserbauten zum Zweck von Herrschaftsrepräsentation. Die eigentlichen Unterschiede zwischen dem römischen und dem heutigen Umgang mit Flusshochwasser sind im religiös-kulturellen Bereich zu verorten. Flüsse waren zugleich göttliche Wesen, zu denen ein reziprokes Verhältnis gepflegt wurde. Die Nähe zum Wasser und der Umgang mit Hochwasser bestimmte das Leben der Menschen, die die Risiken durch Flusshochwasser in Kauf nahmen, solange der Nutzen zu überwiegen schien.

Die sorgfältige Untersuchung, in der der Umgang mit Flusshochwasser im Imperium Romanum behandelt wird, kann überzeugen und ich bin froh, dass die Arbeit in meinem Buchregal steht. Die Abhandlung ist von einer ausgezeichneten Kenntnis der lokalen geographischen, klimatischen und hydrologischen Grundvoraussetzungen geprägt. Es ist beeindruckend, auf welcher breiten Quellenbasis und umfassender Forschungsliteraturkenntnis (das Verzeichnis umfasst fast 50 Seiten!) die Themen ins Zentrum gerückt werden.

Klaus Freitag