Martin Eybl: Sammler*innen. Musikalische Öffentlichkeit und ständische Identität, Wien 1740-1810, Bielefeld: transcript 2022, 590 S., 25 Farb-, 5 s/w-Abb. , ISBN 978-3-8376-6267-2, EUR 59,00
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Nicholas Attfield: Challenging the Modern. Conservative Revolution in German Music, 1918-1933, Oxford: Oxford University Press 2017
Der Wiener Musikwissenschaftler Martin Eybl fragt in seiner Studie nach gesellschaftlichen Wandlungstendenzen am Beispiel Wiens zwischen 1740 und 1810. Anhand des Vergleichs höfischer, klösterlicher und bürgerlicher Sammlungen von musikalischem Notenmaterial will er aufzeigen, dass sich - in Anlehnung an die von Jürgen Habermas [1] postulierte literarische Öffentlichkeit - im Wien des späteren 18. Jahrhundert eine "musikalische Öffentlichkeit" etabliert habe. "Konstituiert Musik - und in der Habsburgermonarchie vielleicht sogar gerade Musik - eine neue, bürgerliche Öffentlichkeit, die sich als offenes Forum aller begreift? ", fragt (19) und bejaht (358-9) Eybl. Seine Fallstudie lehnt sich also an den Befund an, dass das 18. Jahrhundert für Österreich ein Jahrhundert des Wandels gewesen sei. Viel ist über die Aufklärung in den habsburgischen Erblanden gerätselt worden, die so ganz anders zu verlaufen schien als in Frankreich, England oder dem norddeutschen Raum. [2] Die Frage Eybls lässt daher stutzen: Ist aufgrund der zu geringen Beachtung musikalischer Formen gesellschaftlichen Austausches womöglich die Wiener Aufklärung falsch eingeschätzt worden? Dass das Sammeln von Musikalien, wie andere Sammlungen im Wien des 18. Jahrhunderts, auch ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen sein könnte, leuchtet ein. [3] Eybls These erinnert zudem an die Interpretation von Mozarts Zauberflöte als ein tief im Wiener Freimaurermilieu verwurzeltes Gesamtkunstwerk durch den Ägyptologen Jan Assmann sowie an Roger Chartiers einflussreichen Versuch, die Französische Revolution aus den Praktiken, weniger aus den Ideen großer Denker herzuleiten. [4] Beide Werke, die Eybl nicht erwähnt, lassen eine größere Rolle der Musik bei der Transformation der Wiener Gesellschaft denkbar erscheinen.
Eybl ist nicht an der für Habermas wesentlichen Konnotation von Öffentlichkeit als Politikum interessiert, sondern an der Frage der Standesgrenzen, wie es auch der Untertitel nahelegt. Entlang des Begriffspaars einer ersten und zweiten Gesellschaft, welches Zeitgenossen im späteren 19. Jahrhundert prägten, um für die Habsburger Erblande Standesgrenzen zwischen dem alten Adel und dem entstehenden Bürgertum zu markieren, ordnet er Sammlungen und die Aktivitäten ihrer Besitzer*innen oder Nutznießer*innen bereits ein Jahrhundert früher in die jeweilige Kategorie ein. Die Sammler*innen selbst stehen, ausgenommen der letzten beiden Kapitel zum Stift Kremsmünster und zu vier Sammler*innen, erstaunlich selten im Mittelpunkt des Interesses und auch der Begriff des Sammelns bleibt offen. Kann man die Sammlung der Erzherzogin Maria Elisabeth von Österreich (Kapitel 5), welche Eybl überzeugend über Besitzvermerke und Inventare zusammenträgt, ebenso einer aktiven Tätigkeit der Erzherzogin zuschreiben, wie es bei dem von Zeitgenossen als Sammler bezeichneten Franz Joseph Ritter von Heß (Kapitel 12) aufgrund seiner belegten Eigeninitiative unmittelbar einleuchtet?
Eybl beschreibt die Inhalte der Sammlungen und verortet sie in der Musikgeschichte. Insbesondere hier glänzt er mit tiefer Materialkenntnis. Überzeugend gerät beispielsweise seine Widerlegung gängiger Thesen zur Genese des Clavierkonzerts (mit C!) anhand eines musikanalytischen Zugriffs auf die Sammlung Ptuj (220-37). Der größte Sammler bleibt Eybl dabei selbst. In den Jahrzehnten seiner Forschungstätigkeit zum Wiener Musikleben des 18. Jahrhunderts hat er eine immense Arbeitsdatenbank von Hunderten von Abschriften angesammelt, in denen die Instrumentalmusik Wiener Provenienz abgebildet ist. Zahlreiche Tabellen vermitteln einen Eindruck der Materialbasis. Das Kapitel zur Sammlung der Kaiserinwitwe Elisabeth Christine (Kapitel 5) repräsentiert mit 42 Seiten und zehn seitenfüllenden Tabellen in etwa den Durchschnitt. Auf 500 Solokonzerte greift er allein im Kapitel zum Wiener Clavierkonzert zurück (263). Größere Forschungsprojekte seines Lehrstuhls wie zuletzt eines zu Kopisten und Papier von Wiener Opernpartituren oder zum musikalischen Transfer und Konsum in Wien [6] fließen in das 590 Seiten starke Buch ein, welches als zweites Buch der von ihm mitverantworten Reihe Vernetzen - Bewegen - Verorten des Transcript Verlags erscheint. Viele Kapitel wurden in Frühstadien bereits veröffentlicht, wie ein eigener Anhang zeigt (500-1). In zwei Anhängen werden zusätzliches Bildmaterial und Sammlungsinventare gezeigt, ein Personen- und ein Ortsregister beschließen den Band.
Als Kernstück können, trotz der Heterogenität der Kapitelgegenstände und dem nicht linearen Aufbau des Bandes, die drei Kapitel zum Clavierkonzert gelten, und zwar in der Sammlung Ptuj (Kapitel 8), seinen Käuferpublika (Kapitel 9), und seiner Beliebtheit bei Wiener Dilettanten (Kapitel 10). Um die These von der musikalischen Öffentlichkeit auszubreiten, betont Eybl die Bedeutung Wiens für die Verbreitung des Clavierkonzerts als Solokonzert, das auf verschiedenen Tasteninstrumenten (Cembalo, Orgel) gespielt wurde und urteilt, dass es "wie keine andere Gattung dieser Zeit [...] diesen Transfer zwischen höfischer und bürgerlicher Musikkultur" repräsentiere (302). Dabei geht er - Pierre Bourdieu und Norbert Elias lesend - davon aus, dass die 'zweite Gesellschaft' Wiens die höfische Gesellschaft unaufhörlich nachahmte, um über die verschiedenen musikalischen Praktiken symbolisches Kapital anzuhäufen. Im Ringen um das Gut Clavierkonzert sieht Eybl eine aufklärerische Auseinandersetzung zwischen erster und zweiter Gesellschaft, schränkt dieses Urteil aber signifikant ein: "Musik bot den Mitgliedern der zweiten Gesellschaft die Möglichkeit, öffentlich in Erscheinung zu treten. Dieses In-Erscheinung-Treten etablierte eine musikalische Öffentlichkeit [...]" (309). Seine Beobachtung, dass sich im bürgerlichen Konzertieren Wiens um die Jahrhundertwende einige Charakteristika von Habermas' "literarischer Öffentlichkeit" zeigen - Absehung sozial und politisch präformierter Ränge, ein hoher Frauenanteil -, erscheint nicht ausreichend, um von einer musikalischen Öffentlichkeit sprechen zu können, die einen herrschaftskritischen Antagonismus lebt. In der Annahme allzu klarer Grenzen zwischen höfischer und bürgerlicher Sphäre, dem eigentlichen Demonstrandum, liegt das heuristische Problem der Studie, auch, weil Eybl "nicht ein[en] Zustand, sondern ein[en] Prozess" beschreiben möchte (25). Ein Beispiel, an dem man ahnen kann, dass sich die von ihm ausgemachte "musikalische Öffentlichkeit" tatsächlich mit einer "literarischen Öffentlichkeit" überschnitt, ist eine Aufführung von Haydns Schöpfungssymphonie durch die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien im März 1808, der Fürst Nikolaus II. Esterházy ostentativ ferngeblieben sei (341).
Eybls Buch besticht dort, wo es um musikhistorische Einordnungen, einzelne Sammlungen und ihre Provenienzen geht. Distributionswege, Netzwerke von Institutionen und Konsumenten werden erhellend dargestellt, die Kataloge leisten Pionierarbeit. Die Verknüpfung mit soziologischen Theorien überzeugt weniger, die Anbindung an den historischen Kontext und die kulturgeschichtliche Forschung wirkt aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive schmerzhaft knapp, was sich auch im Umgang mit dem ergänzenden Quellenmaterial zeigt, dessen Aussagewert selten relativiert wird.
Eybl wirft dennoch eine bemerkenswerte Frage in den Raum, für deren Beantwortung vor allem weitere interdisziplinäre Studien zu wünschen wären, in denen sich Theaterwissenschaft, Literaturwissenschaft, Geschichte, Architekturgeschichte, Kunstgeschichte und die Musikwissenschaft die Hand reichen mögen.
Anmerkungen:
[1] Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 17. Auflage, Frankfurt am Main 2021 [1990], hier: Kapitel II, §7.
[2] Hierzu jüngst Norbert Wolf: Glanz und Elend der Aufklärung in Wien. Voraussetzungen - Institutionen - Texte, Wien/Köln/Weimar 2023 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen; 35), hier: S. 11-77.
[3] Wie bei: Thomas Huber-Frischeis / Nina Knieling / Rainer Valenta: Die Privatbibliothek Kaiser Franz I. von Österreich. Bibliotheks- und Kulturgeschichte einer fürstlichen Sammlung zwischen Aufklärung und Vormärz, Köln/Wien/Weimar 2015 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Österreichische Geschichte; 111,1).
[4] Vgl. Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München 2005; Roger Chartier: Les Origines culturelles de la Révolution francaise, Paris 1990.
[5] Für Kapitel 12 beispielsweise Christiane Maria Hornbachner: Klöster und Konsumenten am Wiener Musikalienmarkt. Distribution und Transformation von Instrumentalmusik, Bielefeldt 2023 (Vernetzen - Bewegen - Verorten; 4).
Elisabeth Natour