Rezension über:

Florian von Rosenberg: Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen, München: C.H.Beck 2022, 288 S., 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-79199-4, EUR 18,00
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Rezension von:
Gunilla Budde
Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Gunilla Budde: Rezension von: Florian von Rosenberg: Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen, München: C.H.Beck 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/37647.html


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Florian von Rosenberg: Die beschädigte Kindheit

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Viele haben die Zeitungsbilder noch vor Augen, die bereits kurz nach dem Mauerfall durch die Presse gingen: Kleinkinder in Reih und Glied auf "Töpfchenbänken" gleichsam als Sinnbild für die lieblose, disziplinorientierte Kindheit im SED-staatlichen Betreuungssystem. Auch in den späten 1990er Jahren entbrannten dazu immer wieder Debatten (tonangebend dabei der Kriminologe Christian Pfeiffer), in denen der Anpassungsdruck in DDR-Krippen und -Kindergärten und die frühe Trennung vom Elternhaus in Zusammenhang gebracht wurden mit Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft der DDR-Bevölkerung. Was lange als Errungenschaft des SED-Staates gefeiert wurde, wurde nun Stück für Stück entzaubert.

Das Buch des in Erfurt lehrenden Erziehungswissenschaftlers Florian von Rosenberg nimmt vor allem das Krippensystem unter die Lupe. In elf Kapiteln zeichnet er ein veritables Schreckensszenario entlang eklatanter Fälle. Das Ergebnis: Krippenkinder, vor allem die Kinder in den Wochenkrippen, waren kleiner und leichter, häufiger krank, starben öfter, krankten an Hospitalismus und wiesen gravierende physische und psychische Entwicklungsstörungen auf. Die Krippen waren, trotz bemühten Ausbaus, stets überbelegt, es herrschten katastrophale hygienische Zustände, die Ausstattung war miserabel. Die Eltern der Kleinen, die diese kaum sahen, zeigten Schwierigkeiten im emotionalen Umgang mit ihrem Nachwuchs, auf beiden Seiten kam es zu Entfremdungserscheinungen. Und die Betreuerinnen, auch in der DDR waren es primär Frauen, in der Regel schlecht oder gar nicht ausgebildet, erwiesen sich als heillos überfordert, fielen oft aus und wechselten häufig ihre Stellung. Die Erklärung: Dem SED-Staat ging es allein um das ökonomische Interesse und nicht um das Kindeswohl. Vermehrt auch Mütter von Kleinstkindern in den Arbeitsmarkt zu lotsen, war das Ziel, die Konsequenzen für die Kinder schienen dem Staat dagegen nachrangig.

Dass es allerdings von Beginn an von Seiten von Pädagoginnen und Ärzten auch kritische Stimmen gab, macht Florian von Rosenberg in einem Kapitel deutlich, in dem "DDR-Debatten um die Krippe" nachgezeichnet werden. Diese Kritik riss nicht ab, sondern wurde in den letzten zwei Jahrzehnten immer lauter. Es erstaunt kaum, dass immer wieder versucht wurde, Kritikerinnen und Kritiker zur "Staatsräson" zu bringen. Doch mundtot gemacht wurden sie offenbar nicht. Einige von ihnen knickten wohl zeitweilig ein und widersprachen ihren eigenen Befunden. Doch letztlich konnten sie sich bis zum Ende der DDR auf prominenten Positionen halten. Rudolf Neubert etwa, Professor für Sozialhygiene, der sich bereits in den frühen 1960er Jahren für die Betreuung von Kindern bis zu drei Jahren im Elternhaus stark machte, löste zwar einen kurzen Sturm staatlicher Entrüstung aus, blieb dennoch eine geschätzte Kapazität und seine Bücher avancierten durch die Bank zu Bestsellern. Diese Debatten aus der Archivversenkung geholt zu haben, ist das Hauptverdienst des Buches. Allerdings fehlt die Erklärung des Autors, warum der SED-Staat die Kritik überhaupt zuließ und auch nicht unterband, dass sie eine breite Öffentlichkeit erreichen konnte. Es erstaunt, folgt man der Hauptthese von Rosenbergs, dass in der DDR das kindliche Wohlbefinden immer nachrangig, die Zahl an ostdeutschen Krippenforscherinnen und -forschern aber hoch war, die immer wieder und äußerst unverhohlen auf Missstände verwiesen. Die meisten von ihnen schienen auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung und nahmen aktiv teil an internationalen Tagungen. Und wie erklärt man die Einführung des "Babyjahres" unter der "Muttipolitik" von Erich Honecker? Offenbar reagierten die staatlichen Stellen auf die um sich greifende Krippenskepsis innerhalb der DDR-Bevölkerung, man ignorierte sie also nicht gänzlich. Und die These, dass die wenigen konfessionellen Kinderkrippen primär auserkoren waren, sich um behinderte Kinder zu kümmern, wird zahlenmäßig nicht belegt.

Überhaupt führt die gebetsmühlenartig vorgetragene Grundthese des Buches sehr häufig zu undifferenzierten Behauptungen. Fraglos sind die geschilderten Fälle hochgradig inhuman, doch sie beziehen sich weitgehend auf die Wochenkrippen und auf die ersten zwei Jahrzehnte der DDR. Man hätte sich hier gewünscht, genaue Zahlen zu erfahren, wie viele Kinder in solchen Krippen betreut wurden. Selbstverständlich ist jedes einzelne Kind, das die gruseligen Zustände in den Wochenkrippen durchlitten hat, zu viel. Aber war es nicht nur eine kleine Minderheit, die das betraf? Wie sah es seit den 1970er Jahren aus, als die Zahl der Wochenkrippen merklich abnahm? Sicherlich, und das wissen wir längst, ging es dem DDR-Staat um die Füllung des Arbeitsmarktes auch mit Müttern. Aber kann man deswegen die nachrangige Bedeutung der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Erwerbsarbeit ganz in der Argumentation ausblenden? Schließlich betonen bis heute ostdeutsche Frauen auch den emanzipativen Aspekt des früh einsetzenden und spätestens seit den 1970er Jahren beschleunigen Ausbau des staatlichen Betreuungssystems der DDR, das dann in den 1990er Jahren im vereinten Deutschland fortgeführt wurde. In seinem Nachwort schreibt der Autor: "Der zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland flächendeckend einsetzende Ausbau der Betreuung von Kleinkindern vollzog sich jedoch weitgehend geschichtsvergessen" (228). Will der Verfasser damit sagen, dass es auch weiterhin im Betreuungssystem von Kleinstkindern Zustände gibt, wie er sie für die ersten zwei Dekaden der DDR beschreibt? Durchweg macht er keinen Hehl daraus, dass für ihn die Familienbetreuung in den ersten Kinderjahren unabdingbar für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder ist. Das erinnert sehr an die traditionelle Mutterapologie, die westdeutschen Frauen eine Berufstätigkeit verleiden sollte und die bis heute für die fehlende Geschlechtergerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Und eine weitere Frage drängt sich auf: Ein Plus des Buches sind die eindrucksvollen Abbildungen. Dabei fällt auf, dass in den reich bebilderten Erziehungsratgebern der DDR immer mehr Väter mit ihren Kleinkindern gezeigt werden. Immerhin wurde auch in Ostdeutschland seit den 1980er Jahren der Ruf nach "neuen Vätern" laut, was der Verfasser aber an keiner Stelle thematisiert. So verdienstvoll es ist, uns die lebhaften DDR-Krippendebatten zu präsentieren: Ein Blick über die Mauer und in die neueste Forschung (das Literaturverzeichnis ist frappierend kurz) und ein weniger skandalisierender Unterton hätte dem Buch gutgetan.

Gunilla Budde