Werner Freitag: Westfalen. Geschichte eines Landes, seiner Städte und Regionen in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster: Aschendorff 2023, 667 S., 42 Farb-, 42 s/w-Abb., ISBN 978-3-402-24952-9, EUR 44,00
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Werner Freitag (Hg.): Die Salzstadt. Alteuropäische Strukturen und frühmoderne Innovation, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2004
Thomas Flammer / Werner Freitag / Alwin Hanschmidt (Hgg.): Franz von Fürstenberg (1729-1810). Aufklärer und Reformer im Fürstbistum Münster, Münster: Aschendorff 2012
Werner Freitag / Michael Hecht (Hgg.): Die Fürsten von Anhalt. Herrschaftssymbolik, dynamische Vernunft und politische Konzepte in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2003
Geschichtsforschung bedarf einer empirisch erfassten Faktengrundlage, aber auch einer allgemeinen Akzeptanz im kulturellen Diskurs. Um den immer eingeschränkten Blickwinkel der Menschen zu erweitern, mag eine Landesgeschichtsschreibung hierfür ein Bewusstsein zu schaffen und zu schärfen. Die Darstellung einer Landesgeschichte analysiert und interpretiert keine historischen Quellen unter spezifischen Fragestellungen, zeigt vielmehr historische Prozesse und Wandlungen auf. Dieses Anliegen verfolgt auch Werner Freitag in seiner westfälischen Landesgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Doch ist sie weder als Handbuch noch als Nachschlagewerk zu verstehen. Sie steht gerade früheren landesgeschichtlichen Gesamt- und Überblicksdarstellungen in ihrer Konzeption inhaltlich und strukturell entgegen.
Neben den allgemeinen und politischen Entwicklungen ist es Werner Freitag vor allem auch aus historischer Perspektive wichtig, dem westfälischen Kulturraum anhand neuerer Forschungsergebnisse und Publikationen nachzuspüren und Leitlinien zu finden. Gerade in Westfalen prägten und prägen immer noch sowohl gewachsene als auch medial geleitete Raumvorstellungen und Wahrnehmungen die Mentalitäten der Menschen, ihre Heimatverbundenheit und ein Zusammengehörigkeitsgefühl abseits politischer Strukturen. Westfalen stand niemals als ein eigenständiges Land oder Territorium unter einer gemeinsamen Herrschaft im Nordwesten des Reiches. Es erstreckte sich weit über den heutigen Landesteil von Nordrhein-Westfalen bis in die nördlichen Regionen des Bistums Osnabrück und Niederstifts Münster ohne feste Grenzziehungen. Einzig das Verständnis der Zugehörigkeit der hier lebenden Bevölkerungsgruppe verband die Bewohner - nachweislich seit dem 11. Jahrhundert. Das exemplarische Aufzeigen historischer Prozesse und der Vielzahl an Handlungssträngen in den einzelnen Regionen und Herrschaften erschien dem Autor daher als besonders 'lohnenswert', um über das "Lebensumfeld" (18) seiner heutigen Bewohner zu informieren wie auch "das Spezifische Westfalens und seiner Subregionen zu entdecken" (19). Der historisch interessierte Laie soll zur "Selbstreflexion" (19) angeregt werden.
Mit dieser Zielsetzung setzt der Autor auf erzählerische Elemente. Seine Ausführungen gliedert er in Kapitel, die chronologisch fließend ineinander übergehen. Vor dem Hintergrund sich im Früh- und Hochmittelalter ausbildender Herrschafts- und Einflussgebiete, welche sich zu Territorien und Staaten am Ende des Alten Reiches formiert hatten, verdeutlicht Werner Freitag den Aufbau staatlicher Strukturen, die letztlich jegliche autonome Herrschaftsformen und Gebiete ihrer Verwaltung unterordneten. Dabei vergleicht er die Entwicklungen in den einzelnen Territorien, stellt geistliche und weltliche Herrschaftsmodelle gegenüber. Seine Darstellung hebt sich jedoch nicht nur mit dieser seit langem praktizierten vergleichenden Methode von der älteren Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts deutlich ab. Die einzelnen Kapitel verzahnen die politische Geschichte oft sehr detailliert mit den ökonomischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten der jeweiligen Zeit und zwar sowohl in den Städten als auch in den ländlichen Regionen. Auch der Wandel und die Instrumentalisierung religiöser Glaubenspraxis bilden einen zentralen Schwerpunkt. Einzelne Fallbeispiele vermitteln sehr anschaulich kausale Zusammenhänge. Aufzählungen sind zweckgebunden, lassen Strukturen sichtbar werden. Fakten werden daher nicht wegen einer nie zu erreichenden Vollständigkeit aufgeführt, sondern dienen in ihrer Auswahl vielmehr dem Verständnis der Ereignisse und Prozesse. Sie bleiben auch nicht ohne Erläuterungen. Dies gilt auch für die beigefügten Karten und Abbildungen, die in engem Bezug zum Text stehen und darüber hinaus kommentiert werden.
Jede Auswahl und Gewichtung einer Gesamtdarstellung bleibt jedoch immer auch subjektiv und wird durch die genutzten Einzelpublikationen fokussiert gelenkt. Würde sich nicht jede Stadt unter bestimmten Aspekten als wichtig und bedeutend betrachten? War Paderborn mit seinem Bischofssitz um 1000 wirklich die bedeutendste Stadt Westfalens (85) - oder vielleicht (und nicht nur aus Soester Sicht) aus wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive (überregionale Salzproduktion) eher ihre bevölkerungsreiche(re) Nachbarstadt Soest? Eine 'verspätete Reformation', auch als Marker für den Beginn der Frühen Neuzeit, zu betonen, kann kritisch gesehen werden, da ja besonders Konstrukte von Zeitperioden kaum einheitlich alle parallel laufenden Prozesse erfassen können. Zeitabläufe bleiben themenbezogen fließend, wie sie eben der Autor selbst durch die Wahl seiner Zeitabschnitte hervorhebt. Den Fluss der Erzählung stören solche Einzelaspekte allerdings nicht.
Insgesamt erlaubt das Werk einen guten, oft bereichernden Einblick über ein von der 'großen Politik' abgeschiedenes Land auch dadurch, dass Aspekte der Kulturraumforschung - modern gedacht - fruchtbar gemacht werden. Westfalen definierte sich immer durch seine komplexe Vielschichtigkeit, wehrte sich quasi von Anfang an auch gegen Ambitionen einzelner Potentaten, von denen das auf ein relativ unbedeutendes Kölner Teilterritorium geschrumpfte 'Herzogtum Westfalen' seit dem Hochmittelalter kündete. Daher ist es erfreulich, dass die heute in Niedersachsen gelegenen Regionen, welche oft nicht oder nur am Rande Berücksichtigung finden, in die Darstellung einbezogen wurden. Diese Gesamtsicht regt natürlich auch dazu an, aktuelle Kommunikationsräume und Verflechtungen innerhalb der heutigen Regionen besser zu erkennen. Diese gewonnenen Erkenntnisse können allerdings nur mittels der in den Anmerkungen nachgewiesenen Belege vertieft werden. Selbst im digitalen Zeitalter wäre zumindest ein Verzeichnis der neueren Literatur - wenn auch nur in Auswahl - wünschenswert gewesen.
Mit seinen aktuellen Bezügen ist dem Autor Werner Freitag als ehemaligem Inhaber des Lehrstuhls für Westfälische Landesgeschichte an der Universität Münster nicht nur ein allgemein verständliches Werk in eindrucksvoller Weise gelungen. Es ist das Produkt seiner langjährigen Auseinandersetzung mit landesgeschichtlichen Themenfeldern. Seine Akzentuierungen und Interpretationsansätze mögen ebenso für die Regionalgeschichtsforschung anregend wirken. Und es zeigt darüber hinaus vor allem auch, dass sich die im 18. und 19. Jahrhundert weit verbreitete Außensicht auf ein angeblich rückständiges Land immer noch nicht bewahrheitet hat. Die Aufklärung hatte Westfalen bereits Ende des 18. Jahrhunderts längst erreicht und hat es noch nicht verlassen. Trotz oder besser gerade wegen der heutigen Flut an (kaum noch zu bewertenden) Informationen und Fakten braucht es kompetente Synthesen und Leitfäden. Dass auch sie noch längst nicht überholt und veraltet sind, zeigt die vorliegende Landesgeschichte.
Joachim Rüffer