Claus Arnold / Martin Belz / Matthias Schnettger (Hgg.): Reichstag - Reichsstadt - Konfession. Worms 1521 (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte; Bd. 148), Münster: Aschendorff 2023, 214 S., ISBN 978-3-402-26640-3, EUR 39,00
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Wer diesen Tagungsband zur Hand nimmt, sollte zuerst den abschließenden Kommentar von Bettina Braun lesen (199-206). Ihr gelingt es auf wenigen Seiten, dem auf den ersten Blick disparaten Konglomerat von Aufsätzen ein paar rote Fäden einzuweben, die man ohne ihre Hilfe nur schwer erkennen würde. Mit dieser Orientierung lassen sich die hier in leicht veränderter Reihenfolge präsentierten Vorträge der Tagung der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte, die im Juni 2021 in Worms abgehalten wurde, sehr viel besser einordnen. Die erste Sektion beschäftigt sich überwiegend mit Themen aus dem unmittelbaren Umfeld des Reichstages von 1521, während die zweite Sektion Beiträge bündelt, die sich mit unterschiedlichen religionsgeschichtlichen Fragestellungen befassen, zu denen die Stadt Worms jeweils das lokale Beispiel bietet. Der öffentliche Abendvortrag von Volker Leppin wurde nicht aufgenommen. Stattdessen findet sich am Ende der ersten Sektion der leicht modifizierte Wiederabdruck eines Aufsatzes von Armin Kohnle [1], in dem er den Auftritt Martin Luthers relativiert und davor warnt, diesen Moment als Grundlegung einer "Gewissensreligion" zu überhöhen (113-123).
Der erste Beitrag von Burkhard Keilmann behandelt die Konflikte zwischen Klerus und Rat in Worms während des Landshuter Erbfolgekrieges 1504/05 (17-44), womit er thematisch etwas aus dem Rahmen zu fallen scheint. Man liest ihn gleichwohl mit Gewinn, bietet er doch einen detailreichen Einblick in das Ringen der weltlichen Obrigkeit um die Wahrung der Integrität der städtischen Sakralgemeinschaft und die wachsende Bedeutung des städtischen Rats im Bereich von Kirche und Religion bereits vor der Reformation.
Hier schließt der Beitrag von Gerold Bönnen an, der nicht nur die Interessen und Spielräume der reichsstädtischen Obrigkeit um 1520/21 untersucht, sondern den Fokus etwas weiter fasst und den Bogen von den Bürgerunruhen des Jahres 1514 bis zum Bauernkrieg von 1525 spannt (45-63). Dabei kann er sehr schön herausarbeiten, dass religiöse bzw. konfessionelle Konflikte vom Wormser Rat immer wieder auch als "Vehikel" benutzt wurden, um die Obrigkeitsrechte weiter auszubauen.
Die Diskussion um die Reichsreform auf dem Wormser Reichstag von 1521 stellt Dietmar Heil ins Zentrum einer ausgesprochen klugen Analyse (65-85). Auf der Grundlage seiner profunden Kenntnis der einschlägigen Quellen und der aktuellen Forschungsliteratur wird überzeugend herausgearbeitet, dass diesem Reichstag eben gerade nichts Revolutionäres anhaftet, sondern dass er in vielen Aspekten ältere Reformbemühungen fortführt und damit als letzte vorreformatorische Reichsversammlung gelten kann.
Dass während dieses Reichstags trotz des Auftritts von Martin Luther nicht so sehr die religiösen Kontroversen zu Spannungen führten, sondern protokollarische Rangstreitigkeiten und zeremonielle Diskurse um Status und Ansehen für Aufregung sorgten, zeigt Matthias Schnettger in einem lesenswerten Aufsatz, der sehr treffend mit dem Titel "Die Bühne des Reichs" (87-111) überschrieben ist. Gerade weil der Reichstag als der erste Karls V. sehr gut besucht war, bietet er ein weites Feld für die Untersuchung symbolischen Handelns. Die Entscheidung, Martin Luther gerade nicht im Versammlungsraum des Reichstags, dem Wormser Rathaus, sondern im Quartier des Kaisers, dem Bischofshof in Worms, auftreten zu lassen, ist nur ein Beispiel für symbolisches Handeln, das damals von größter Bedeutung war.
Die zweite Sektion ist demgegenüber deutlich bunter und wirft Schlaglichter auf völlig unterschiedliche Aspekte der Konfessionskultur. So untersucht Christoph Nebgen die Korrespondenzen von Peter Faber, Petrus Canisius und Friedrich Spee von Langenfeld, die diese bekannten Jesuiten in den Tagen ihrer individuellen Aufenthalte in Worms mit der Ordenszentrale in Rom geführt haben (127-146). Neues über Worms erfährt man dabei eher weniger. Als Resümee hält der Verfasser fest, dass Worms als ein Lernort für die Gesellschaft Jesu bezeichnet werden könne, da die dort empfangenen Anregungen die Haltung der Ordensmitglieder gegenüber dem Protestantismus in besonderer Weise prägten.
Sehr viel ergiebiger für ein besseres Verständnis der Wormser Geschichte ist der Beitrag von Carolin Katzer: "Zwischen Abgrenzung und Annäherung" (147-171). Darin untersucht sie das konfliktreiche Zusammenleben konfessioneller Minderheit mit der mehrheitlich lutherischen Stadtbevölkerung. Anhand instruktiver Beispiele - wie etwa der Mischehen zwischen Reformierten und Lutheranern im 18. Jahrhundert - kann sie zeigen, wie mühsam der Interessensausgleich trotz klarer rechtlicher Vorgaben immer wieder sein konnte. Als besonders hilfreich erweist sich dabei der von ihr gewählte raumsoziologische Ansatz, der z.B. die häufigen Streitigkeiten zwischen Geistlichen als Übergriff in den Sakralraum der jeweils anderen Konfession interpretiert und damit besser verständlich macht.
Das Wormser Memorandum von 1971, in dem sechs ökumenisch orientierte Katholiken den Papst um ein klärendes Wort zur Person und Lehre Martin Luthers und um erste Schritte zur Aufhebung des über den Reformator verhängten Kirchenbanns baten, steht im Zentrum des Beitrags von Martin Belz (173-197). Auch hier erfährt man weniger über die Stadt Worms. Man erhält vielmehr einen durchaus interessanten Einblick in die von großen Hoffnungen auf eine ökumenische Annäherung geprägte Zeit kurz nach dem II. Vatikanum und die unterschiedlichen Reaktionen auf die damals noch erfolglose Initiative.
Am Ende bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Während die einzelnen Beiträge für sich genommen anregend und informativ sind, erscheint die Zusammenstellung des Ganzen eher zufällig. Dennoch ist Bettina Braun Recht zu geben, wenn sie abschließend feststellt, dass Luthers Auftritt in Worms der "Rang eines deutschen, zumindest eines protestantischen deutschen Erinnerungsortes" (199) zustehe. Und dieser Erinnerungsort strahlt - trotz aller Relativierungen, die in diesem Band vorgebracht wurden - sowohl auf die unmittelbare Stadt- und Reichsgeschichte als auch auf das Mit- und Gegeneinander der Konfessionen in den folgenden Jahrhunderten aus.
Anmerkung:
[1] Armin Kohnle: Gewissensreligion? Luthers Wormser Rede neu gelesen, in: Luther. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 92 (2021), 84-92.
Peer Frieß