Pietro Colletta / Fulvio Delle Donne / Benoît Grévin (a cura di): I «dictamina» del Codice Fitalia. Tra retorica, letteratura e storia (= Edizione Nazionale dei Testi Mediolatini d'Italia; 62), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2022, VIII + 624 S., ISBN 978-88-9290-151-3, EUR 98,00
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Benoît Grévin: Le parchemin des cieux. Essai sur le Moyen Âge du langage, Paris: Éditions du Seuil 2012
Der Codice Fitalia hat erstmals eine vollständige, kritische Edition erhalten. Beachtung gefunden hat die unter dem Namen ihrer ehemaligen Besitzer, der sizilianischen Fürsten von Fitalia, bekannte Mischsammlung mit 156 lateinischen Briefen und anderen Texten, von den Herausgebern sinnvollerweise als Dictamina bezeichnet, schon seit langem, ihr Inhalt war aber nur aus den verstreuten Abdrucken von Einzelstücken und mehreren Verzeichnungen bekannt. Die Sammlung ist unikal in einer Papierhandschrift überliefert, die unter der Signatur ms. I. B. 25 in der Bibliothek der Società siciliana per la storia patria in Palermo aufbewahrt wird. Das jüngste darin enthaltene Stück datiert von 1331. Anhand der Wasserzeichen, die in der Einleitung zu der Ausgabe innerhalb einer von Pietro Colletta verfassten kodikologischen Beschreibung mehrheitlich in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert werden (6), ist für die Entstehung der Handschrift mit Ausnahme der letzten Blätter die Zeit vor der Jahrhundertmitte anzunehmen. Eine Bestimmung der politischen Tendenz halten die Editoren für unmöglich (25).
Die inhaltliche Ausrichtung der auf den ersten Blick ganz ungeordnet erscheinenden Dictamina lässt dennoch Struktur erkennen, was bei derartigen Mischsammlungen durchaus üblich ist. Wie von Fulvio Delle Donne in der Einleitung nachgezeichnet (15-18), setzt sich die Sammlung aus einer Reihe deutlich voneinander abzugrenzender Gruppen zusammen. Sie beginnt mit 21 zum Teil umfangreichen Briefen zum erbitterten Konflikt zwischen dem staufischen Kaiser Friedrich II. (gest. 1250) und dem Papsttum, die großenteils im ersten Buch der Briefsammlung des Petrus de Vinea überliefert und der Forschung allesamt bestens bekannt sind (Nr. 1-23). Es folgt eine ansehnliche Gruppe mit Dokumenten zur Fortführung der Auseinandersetzungen unter den Nachkommen des Kaisers, Manfred (gest. 1266) und Konradin (gest. 1268) (Nr. 26-35). Ebenfalls beachtlichen Umfang nimmt eine zweigeteilte Zusammenstellung von Texten zu Tod, Trauer und Beileid ein (Nr. 47-48, 53-70). Im weiteren Verlauf ist eine Gruppe von fiktiven Schreiben zu erkennen, die als satirisch zu verstehen sind und wohl durchweg dem studentischen Milieu entstammen, darunter eine Beschwerde der Neapolitaner Prostituierten und die Antwort der Doktoren darauf sowie ein Briefwechsel des königlichen Löwen mit dem Esel und dem Hasen (Nr. 111-117). Eine Reihe von Privilegien für die Stadt Palermo schließt sich unmittelbar an und zeigt, wie diverse andere Dokumente auch, den engen Konnex der Sammlung mit der Insel Sizilien (Nr. 118-128).
Zwischen diesen Gruppen stehen Dictamina aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, die sich in der großen Mehrzahl auf Friedrich II. beziehen, wie überhaupt die Sammlung trotz ihrer Inhomogenität und trotz einer Reihe von jüngeren Stücken in hohem Maße von der Figur des staufischen Kaisers beherrscht wird. In weit größerem Umfang als in anderen derartigen Mischsammlungen enthält der Codice Fitalia Gedichte in Form von Hexametern und Distichen, darunter in erheblicher Zahl solche mit Trauerbezug wie auch mit satirischem Charakter. In der Einleitung befasst sich Delle Donne ausführlich mit diesen Gedichten, die er wie die durch ihren Prosastil ausgezeichneten Briefe als Erzeugnisse der Ars dictaminis sieht, und spricht aufgrund ihrer der gesamten Sammlung eine exzeptionelle Stellung zu (33-39).
Die von Colletta vorgenommene Identifizierung von fünf Händen (7) liefert Erkenntnisse über den Entstehungsprozess der Sammlung. Eine Haupthand besorgte den mit Abstand größten Teil und schloss mit Nr. 134. Vier weitere Hände schrieben die verbleibenden 22 Dokumente, die fast durchweg dem 14. Jahrhundert entstammen. Ins Auge fallen hier sieben Stücke zum Konflikt zwischen Kaiser Ludwig dem Bayern und Papst Johannes XXII., die offensichtlich ein Pendant zu den Fridericiana am Beginn der Sammlung darstellen (Nr. 143-149).
Die einzelnen Nummern der Edition folgen im wesentlichen dem weithin üblichen Aufbauprinzip. Die Kopfregesten setzen ein mit einer knappen Zusammenfassung des Inhalts und enthalten weiterhin das Folienzitat des Codice Fitalia, die älteren Editionen und Regesten sowie das Ausstellungsdatum des betreffenden Stücks, soweit dieses zu erschließen war, denn die Briefe sind in der Version der Sammlung in vielen Fällen undatiert. Die Schreibweise der lateinischen Texte wurde im Sinne einer besseren Lesbarkeit durchgreifend normalisiert. Emendationen der keineswegs fehlerfreien Leithandschrift wurden, soweit zwingend notwendig, durchgeführt, ansonsten folgt der Editionstext strikt der Vorlage. Die Edition ist mit drei Apparaten ausgestattet, einer für die Lesarten, einer für die Übernahmen aus der Vulgata und anderen Werken sowie einer für die Sachkommentierung. Letzterer beschränkt sich nicht auf die Identifikation der in den Dictamina genannten Personen und Ereignisse, sondern vermittelt auch Informationen zu Literarizität und Rhetorik.
Damit ist das Kernanliegen der Editoren bei der Herausgabe des Codice Fitalia angesprochen. Sie waren, wie schon der Untertitel des Bandes andeutet, bestrebt, die Stellung der Sammlung zwischen ihrer historisch-dokumentarischen und ihrer literarischen Funktion zu bestimmen. In der Einleitung räumen Fulvio Delle Donne und Benoît Grévin dieser Frage breiten Raum ein und sehen dabei den intentionalen Schwerpunkt auf literarischem und rhetorischem Gebiet, während die Heranziehung der mehrheitlich politisch ausgerichteten Texte mit ihrer ausgesuchten Stilisierung lediglich das Material hierzu hergegeben hätten. Am Ende gelangen sie zu der Erkenntnis, dass die Sammlung weder historisch noch literarisch, sondern "storico-letterario" sei (49).
So vieler Worte hätte es gar nicht bedurft, denn diese doppelte Ausrichtung ist für derartige Mischsammlungen des späteren Mittelalters typisch. Keine Frage, das Ziel bei ihrer Anlage bestand zuallererst darin, beispielgebend stilisierte Dictamina, die für die stilistische Fortbildung geeignet waren, vornehmlich Briefe, aber auch andere Texte wie etwa Gedichte, zusammenzustellen, und entsprang somit einem didaktischen Impetus. Wenn dabei vielfach Schreiben aus der Briefsammlung des Petrus de Vinea herangezogen wurden, gleich ob sie von diesem wirklich verfasst waren oder nicht, spricht dies für eine ungebrochene Wertschätzung seiner Person und dieser Diktate, aber auch für eine immer noch lebendige Faszination der Person Kaiser Friedrichs II. Ein reges Interesse an der Geschichte der späten Staufer war demnach gewiss gegeben. Dem widerspricht nicht, wie von den Editoren konstatiert, dass die politischen Briefe in der Handschrift nicht der Chronologie folgen und eine lineare Lektüre deshalb unmöglich gewesen sei (22). Die Benutzung einer solchen Sammlung, die einer nur losen Ordnung folgt, hat man sich anders vorzustellen. Man blätterte wohl eher nach Belieben in der Handschrift und begann zu lesen, wo der Blick hängen blieb. Allein die wiederholte Beschäftigung mit ihr war geeignet, den eigenen Briefstil zu schulen und gleichzeitig Freude oder auch Schaudern an den politischen Schreiben aus vergangenen Tagen zu empfinden. Das Nebeneinander von rhetorischer und historischer Ausrichtung stellt in den Mischsammlungen jener Zeit keinen Widerspruch dar. [1]
Die gelungene Edition des Codice Fitalia zeigt, dass die Briefforschung nach langwährender Vernachlässigung wieder sehr lebendig ist, und wird gewiss neue Fragestellungen hervorrufen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Matthias Thumser: Briefe in loser Ordnung. Über Mischsammlungen des späteren Mittelalters, in: Päpste, Privilegien, Provinzen. Beiträge zur Kirchen-, Rechts- und Landesgeschichte. Festschrift für Werner Maleczek zum 65. Geburtstag, hgg. v. Johannes Gießauf / Rainer Murauer / Martin P. Schennach (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung; Ergänzungsbd. 55). Wien / München 2010, 449-460, hier 457-459 (von den Editoren nicht herangezogen).
Matthias Thumser