Rezension über:

Piotr Wciślik: Dissident Legacies of Samizdat Social Media Activism. Unlicensed Print Culture in Poland 1976-1990 (= Routledge Histories of Central and Eastern Europe), London / New York: Routledge 2021, XI + 245 S., ISBN 978-0-367-75669-7, GBP 104,00
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Rezension von:
Krzysztof Okoński
Kazimierz-Wielki-Universität, Bydgoszcz
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Krzysztof Okoński: Rezension von: Piotr Wciślik: Dissident Legacies of Samizdat Social Media Activism. Unlicensed Print Culture in Poland 1976-1990, London / New York: Routledge 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/38441.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Piotr Wciślik: Dissident Legacies of Samizdat Social Media Activism

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Im Rahmen der Buchreihe Histories of Central and Eastern Europe ist im Jahr 2021 ein Band über das Erbe der Untergrundkultur und über deren Bedeutung für die demokratische Opposition im kommunistischen Polen erschienen. Der Verfasser, Piotr Wciślik, ist Leiter des Zentrums für digitale Geisteswissenschaften am Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau und arbeitet mit der Central European University und der Open Society Archives in Budapest zusammen. In seinem Buch setzt er sich zum Ziel, den Zusammenhang zwischen Ideen und Medienpraktiken, insbesondere die Funktionen der Untergrundkultur als Form des "samizdat social media activism", näher zu beleuchten. Der Band basiert auf Wciśliks Dissertation und besteht aus vier Kapiteln, in denen die Entstehungsgeschichte des Samizdat als eines sozialen Mediums, die Bedeutung der Presse der Gewerkschaft "Solidarność", Erscheinungsformen und ökonomisch-organisatorische Aspekte der demokratischen Bewegung unter Kriegsrecht und in den nachfolgenden Jahren sowie der Übergang vom Kommunismus zur Demokratie (unter besonderer Berücksichtigung der Auflösung der Untergrundszene und der Neuorientierung des Pressemarktes nach dem Systemwechsel von 1989) analysiert werden. Diese Gliederung entspricht der chronologischen Entwicklung der inoffiziell herausgegeben Presse und Literatur. Der Band enthält neben Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels auch ein Literaturverzeichnis und ein Register der Namen und Sachbegriffe.

Das Hauptziel der von Wciślik vorgelegten Studie ist einerseits die Erfassung der alternativen polnischen Kulturszene und ihrer Medien im ethnografischen und historischen Kontext und andererseits der Versuch, die Entwicklung und die Eigenart des sogenannten Zweiten Umlaufs (drugi obieg) vor dem Hintergrund oppositioneller Potenziale und der Kommunikationsmöglichkeiten gegenwärtiger sozialer Netzwerke zu analysieren. Die Neugier auf eine praktische Umsetzung dieser innovativen Forschungsperspektive mischt sich allerdings - zumindest vor der Lektüre - mit dem Eindruck, dass der zeitliche Rahmen und die komplexe Thematik des Buches eigentlich eine Studie größeren Umfangs erfordern. Der Anblick des verhältnismäßig schmalen Bandes sollte aber nicht täuschen: Das Buch von Wciślik ist kenntnisreich geschrieben und beleuchtet sowohl intellektuelle als auch organisatorische, finanzielle und technische Aspekte der polnischen Kultur außerhalb der Zensur. Ein großer Gewinn für die Leser ist zum Beispiel die Darstellung der inoffiziellen Kulturszene in der Endphase des Kommunismus, besonders vor dem Hintergrund der Verhandlungen am Runden Tisch, das Bild der Selbstauflösung des Zweiten Umlaufs im Herbst 1989 und nach der Abschaffung der Zensur im April 1990.

Die Lektüre lohnt aber auch wegen der sachkundigen Analyse des "langen Marsches" ("long march", 136) der polnischen alternativen Kultur in den 1980er Jahren (der aus der polnischen Tradition des 19. Jahrhunderts abgeleitete Begriff "Grundlagenarbeit" hätte in diesem Zusammenhang angesichts der breit angelegten und gezielten Arbeit am Aufbau einer Untergrundgesellschaft besser gepasst). Die Darstellung der thematischen, weltanschaulichen und ästhetischen Vielfalt des Zweiten Umlaufs ist genauso plastisch und ausgereift wie die Schilderung technischer Details des Buchdrucks in den Untergrundverlagen. Obwohl sich der Verfasser zum Ziel setzt, vor allem die intellektuelle Geschichte mitsamt ihrer Interaktionen innerhalb der inoffiziellen Presse- und Kulturszene zu analysieren, wäre es durchaus angebracht gewesen, den Text um Bilder zu ergänzen. Die Untergrundverlage funktionierten in improvisierten Räumen und waren mit allen Problemen der Mangelwirtschaft im Kommunismus konfrontiert. Dieser Zustand zwang die Verleger, sich auf den eigenen Einfallsreichtum bei der Organisation des Druckprozesses zu verlassen und bisher kaum bekannte Drucktechniken zu verwenden. Das stark differenzierte Layout dieser Zeitschriften und Bücher hat zweifellos einen ikonografischen Wert, der es verdient hätte, gezeigt zu werden - nicht zuletzt im Vergleich mit Publikationen dieser Art in anderen Ländern des Ostblocks.

Viel problematischer erscheint jedoch die Kontextualisierung des Zweiten Umlaufs in den gegenwärtigen sozialen Medien. Die häufige Verwendung des Begriffs samizdat social media weckt einerseits das Interesse an einem innovativen Forschungsansatz, trägt aber gleichzeitig dazu bei, dass die für die polnische Untergrundkultur übliche Bezeichnung drugi obieg etwas verblasst, aus einem auf Englisch verlegten und damit für ein breiteres Publikum konzipierten Buch verdrängt wird und durch den Hinweis auf gegenwärtige Social Media irreführend wirkt. Die Wortschöpfung "Samizdat" stammt von dem russischen Begriff samizdatel'stvo (Selbstverlag) und charakterisiert eher die Widerstandskultur in der UdSSR als die Eigenart der inoffiziellen Presse in Polen. Dem Verfasser ist dieser Unterschied bekannt, und er verweist an einigen Stellen auf die länderspezifische Terminologie.

Nur bedingt nachvollziehbar ist auch Wciśliks Brückenschlag zwischen der Untergrundkultur in der Volksrepublik Polen und den modernen sozialen Netzwerken. Ihre Rolle zum Beispiel im arabischen Frühling und in vielen anderen Protestkulturen ist unbestritten. Insofern kann man den Zweiten Umlauf mit seinen freiheitlichen Potenzialen und alternativen Vertriebsmethoden als einen Vorläufer antiautoritärer Netzinitiativen verstehen. Zu fragen wäre aber, ob die Formulierung dissident legacies, die im Titel des Bandes im Zusammenhang mit Untergrundzeitschriften erscheint, tatsächlich - beziehungsweise in welcher Form und in welchem Ausmaß? - auf gegenwärtige Regimekritiker auf Facebook bezogen werden sowie eine bewusste Kontinuität (in der Art und Weise, wie die Untergrundverleger in der Volksrepublik Polen an die Traditionen der heimlich gedruckten Presse der Heimatarmee anknüpften) unterstellt werden sollte. Der Begriff network, den der Verfasser seltener verwendet, wäre außerdem für die Beschreibung des Kulturlebens im Untergrund passender gewesen als social media - nicht zuletzt aufgrund der Unterschiede zwischen den für Web 2.0 typischen sozialen Netzwerken, in denen User zu Autoren werden, und der früheren - passiven - Version des Internets. Der Verfasser wählt Begriffe wie network oder environment in Bezug auf Konstellationen von Personen, Institutionen und Ideen, die - wie Wciślik zu Recht anmerkt - auch für die Pariser Kultura charakteristisch waren. Ein Vergleich der meisten Untergrundzeitschriften mit gegenwärtigen user-orientierten sozialen Medien scheint dagegen problematisch, auch wegen relativ fester Autorenteams wie zum Beispiel in der außerhalb der Zensur erscheinenden Literaturzeitschrift Zapis. Das Internet mit seinen dissidentischen Potenzialen - und seiner mit dem Zweiten Umlauf vergleichbaren Ausrichtung - ließe sich gewiss für einen modernen Forschungsansatz operationalisieren, allerdings nur, wenn man dessen Zustand aus den früher 2000er Jahren zugrunde legt. Ähnlich wie die Zeitschriften des Zweiten Umlaufs war das Internet der ersten Generation ein relativ passives Medium mit einer klaren Einteilung in Autoren und Leser. Nicht zu übersehen ist auch der technisch-kommerzielle Aspekt: In den sozialen Netzwerken (anders als unter konspirativen Umständen) sind für die Rezeption der Inhalte Algorithmen wichtiger als Mund-zu-Mund-Propaganda.

Wciśliks Studie beeindruckt durch seinen sachkundigen und differenzierten Blick auf die inoffizielle Kulturszene und regt dazu an, nach universalen Dimensionen eines längst geschlossenen Kapitels der polnischen Protestkultur mit modernen Mitteln zu suchen.

Krzysztof Okoński