Detlef Lehnert: Friedrich Stampfer 1874-1957. Sozialdemokratischer Publizist und Politiker: Kaiserreich - Weimar - Exil - Bundesrepublik (= Historische Demokratieforschung; Bd. 20), Berlin: Metropol 2022, 502 S., ISBN 978-3-86331-623-5, EUR 26,00
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Der 1874 im habsburgisch-mährischen Brünn geborene, einer liberal-bürgerlichen Familie entstammende und Ende 1957 hochbetagt in Kronberg im Taunus verstorbene Friedrich Stampfer wirkte sein ganzes berufliches Leben lang als Journalist, Publizist und politischer Schriftsteller. Er tat dies seit seiner politischen Bewusstwerdung als engagierter Vertreter der Arbeiterbewegung, zunächst für österreichische Blätter. Bereits seit 1897 fungierte er dann als Wiener Korrespondent der "Leipziger Volkszeitung" und nach seiner Übersiedlung ins Deutsche Reich im Jahr 1900 vorübergehend als deren faktischer Chefredakteur. Im Vorkriegsjahrzehnt vielfach aktiv als freier Publizist - unter anderem für den "Vorwärts" - und renommiert vor allem für seine im "Alleinmeisterbetrieb" (11) seit 1903 erstellte "Politische Korrespondenz für die sozialdemokratische Parteipresse", übernahm Stampfer 1916 den Chefredakteursposten beim "Vorwärts", den er mit einer kurzen Unterbrechung bis zu dessen Verbot 1933 innehatte. Seit 1920 mit einem Reichstagsmandat der SPD ausgestattet, stieg er in deren Parteivorstand auf, für den er seit 1933 auch im Prager, Pariser und New Yorker Exil wirkte und unter anderem im "Neuen Vorwärts" und in der "Neuen Volkszeitung" zahlreiche Artikel veröffentlichte. Nach seiner Rückkehr nach Westdeutschland 1948 war Stampfer weiterhin unverdrossen publizistisch aktiv. Er hinterließ neben ungezählten Zeitungsartikeln Briefe und Aufzeichnungen aus der Exilzeit und einige Bücher und Broschüren - am bedeutendsten seine jeweils drei Auflagen erreichenden "Grundbegriffe der Politik" und "Die vierzehn Jahre der Ersten Deutschen Republik" sowie eine Erinnerungsschrift "Erfahrungen und Erkenntnisse".
Der durch seine Arbeiten zur Weimarer Republik sowie zur deutschen und österreichischen Arbeiterbewegung bestens ausgewiesene Politikwissenschaftler Detlef Lehnert widmet Stampfer nun eine umfangreiche Darstellung, die etwa gleichgewichtig die vier Phasen der Vorkriegszeit, des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution, der Weimarer Republik sowie des Exils und der Nachkriegszeit abhandelt. Leider vermag die Methodik der Darstellung insgesamt nicht zu überzeugen: Lehnerts sechs Seiten umfassende Einführung gibt in keiner Weise zu erkennen, welches Ziel die Untersuchung verfolgt, mit welcher Absicht und welchem Erkenntnisinteresse die Arbeit unternommen wird sowie in welche Forschungsfragen sich das Unternehmen einbettet. Das bleibt auch im weiteren Verlauf der Darlegungen im Dunkeln. Lediglich auf Seite 417 lässt Lehnert unvermittelt und en passant einfließen, es gehe um "eine dem Publizisten und Politiker gewidmete Darstellung".
Der fehlende Anschluss an geschichts- und politikwissenschaftliche Kontexte und Fragestellungen schlägt sich unmittelbar in der Form von Lehnerts Darstellung nieder. Eine Biografie im eigentlichen Sinne wollte der Autor offenbar nicht schreiben; Stampfers Alltags- und Privatleben spielen kaum eine Rolle. Stattdessen referiert, paraphrasiert und zitiert Lehnert in streng chronologischer Reihenfolge Stampfers Publikationen, zumeist arg schematisch in der Weise, dass einer Ganzschrift mehrere Absätze gewidmet werden, einem wichtigeren Artikel ein Absatz, einem von Lehnert für weniger bedeutend gehaltenen Beitrag, einer Rede oder einer Rezension ein oder zwei Sätze, die meistens je ein Zitat enthalten. Dieses Verfahren ist nicht nur über weite Strecken ermüdend, es führt zu einem weitgehenden Verzicht auf Schwerpunkte und Gewichtungen, der mit dem Fehlen von Fragestellungen korrespondiert und eine exemplarische Diskussion von ausgewählten spezifischen Themenkomplexen ausschließt.
Tatsächlich wird kein einziges mit Stampfers publizistischem und politischem Wirken verbundenes Interpretationsproblem unter systematischer Einbeziehung von Befunden der Forschungsliteratur intensiv erörtert. Eine kritische Auseinandersetzung mit Stampfers Haltung zur Frage der Kriegsverursachung 1914 oder seiner vehementen Ablehnung der Unterzeichnung des Vertrags von Versailles findet nicht statt. Zu Stampfers zeitweiligen Überlegungen zu einer Zusammenarbeit der SPD mit der KPD im Kampf gegen den Nationalsozialismus oder seiner Interpretation der NS-Herrschaft finden sich bei Lehnert keinerlei einschlägige Impulse. Beinahe alles rauscht in dem Wust von wiedergegebenen Texten Stampfers an der Leserschaft vorbei, der es überlassen bleibt, sich selbst Schneisen der Interpretation zu schlagen, etwa zur Bedeutung von Stampfers durchgehend an den Tag gelegten Westorientierung - die Lehnert wenigstens im Fazit einmal anspricht (470) -, seinem Demokratie- und Sozialismusverständnis, das an den verschiedensten Stellen gelegentlich thematisiert, aber nicht zu einer Gesamtinterpretation zusammengefügt wird, oder zu dem Bild, das Stampfer von auswärtigen Staaten und Gesellschaften zeichnet. Im Übrigen geht Lehnert mit der Forschungsliteratur allzu stiefmütterlich um. Sie findet nur selten Erwähnung, zumeist um ihr in Details zu widersprechen, praktisch nie, um darauf hinzuweisen, welche Autorinnen oder Autoren sich anderweitig bereits mit Stampfers Texten beschäftigt und sie in historischen Zusammenhängen verortet haben: Auch im Hinblick auf die Forschungsgeschichte ermangelt es an Kontextualisierung.
Es ist bezeichnend, dass es Lehnert nicht gelingt, seiner Leserschaft klarzumachen, warum Stampfer eigentlich monografiewürdig sei: Lehnert beklagt, Stampfer spiele in der Literatur zum Ersten Weltkrieg keine Rolle (108), doch wird aus seiner Darstellung nicht ersichtlich, weshalb Stampfer darin Aufnahme finden sollte. Zur Bedeutung von Stampfers sagenumwobener Pressekorrespondenz bleibt Lehnert vage: Er zitiert Stampfers eigenes Urteil, er habe "dem größeren Teil der Parteipresse die täglichen Leitartikel" geliefert (102), vermag das aber nicht zu verifizieren (84f.). Lehnert macht die Mitarbeit Stampfers an grundlegenden sozialdemokratischen Texten wie dem Görlitzer Parteiprogramm von 1921, der Erklärung der SPD-Fraktion im Reichstag vom 23. März 1933 oder dem "Prager Manifest" des Exilvorstands von Januar 1934 plausibel, kann aber in keinem Fall den konkreten inhaltlichen Beitrag Stampfers nachweisen. Für die Zeit der Weimarer Republik wird Stampfers spezifische historische Bedeutung über die eines "vorstandsbestellten führenden Meinungsmultiplikator[s] der Mehrheits-SPD" (123) hinaus letztlich nicht ersichtlich. Folgerichtig findet Stampfer auch in Lehnerts eigener Gesamtdarstellung der Weimarer Republik keine Erwähnung [1].
Was bleibt, sind einige verstreute Hinweise auf Stampfers Einordnung in die Geschichte der sozialdemokratischen Parteipresse, auf sein graduelles, humanitäres, in der Ideengeschichte des Liberalismus wurzelndes Verständnis von Revolution und demokratischem Sozialismus, seine Nähe zu gewerkschaftlichen Positionen oder sein Engagement in der Arbeiterbildung. Selbst Stampfers bereits 1910 vorgebrachte hellsichtige Überlegungen zur Möglichkeit einer "Aufhebung der Demokratie durch sich selbst" (91) oder seine 1956 formulierte Einsicht, "man muß die Tatsache, daß es heute zwei deutsche Staaten gibt, zuerst einmal 'anerkennen', wenn man sie überwinden will" (457), nutzt Lehnert nicht als Ausgangspunkt für eine Diskussion, eine eingehende Kontextualisierung oder weiterführende Gedanken. Eine Gesamtinterpretation von Stampfers politischem Denken unterbleibt. Bis in sein Fazit hinein scheut der Autor vor eindeutigen Urteilen und Zuweisungen zurück: Stampfer habe "in seinem langen Berufsleben [...] zu viele und vor allem zu viele ganz unterschiedliche Texte geschrieben [...], als dass sie sich hier auf sinnvoll begrenztem Raum resümieren ließen" (468), und Stampfer sei "nur schwer in herkömmlichen Richtungskategorien innerhalb der SPD zu fassen" (473). Lehnerts Buch liefert zuvörderst ein Regest von Friedrich Stampfers publizistischem Werk. Die Forschung zur Weimarer Republik, zum sozialdemokratischen Exil oder zur frühen Bundesrepublik wird es schwerlich voranbringen.
In derselben, von ihm selbst herausgegebenen und redigierten Schriftenreihe publiziert Lehnert ein Buchmanuskript Friedrich Stampfers, das wohl in der ersten Jahreshälfte 1943 im US-amerikanischen Exil fertiggestellt, aber dann nicht gedruckt wurde. Es sollte einer Leserschaft seines Gastlandes die Geschichte der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung der demokratischen deutschen Arbeiterbewegung nahebringen; eine Übersetzung ins amerikanische Englisch kam aber nicht zustande und ein finanzstarker Förderer oder ein Verlag fand sich nicht. Tatsächlich erscheint es fraglich, ob Stampfers nicht sonderlich systematische Darlegungen, die weniger einer historischen Darstellung nahekommen als dem Versuch, einige Stampfer wichtig erscheinende Aspekte aus der persönlichen Erinnerung in oft launiger Weise zu memorieren, ein großes Publikum gefunden hätten.
Lehnert schickt ihnen eine Einführung voran, die wiederum eher eine Zusammenfassung von Stampfers Text als eine kritische Auseinandersetzung und Kontextualisierung darstellt. Zu seinen "Editionsgrundsätzen" führt der Herausgeber aus: "Ersichtliche Textfehler" würden ebenso stillschweigend korrigiert wie "ersichtliche Irrtümer und Fehler bei Daten und Zahlen"; "wo eine damalige Formulierung eine unzutreffende Sachinformation transportieren würde, ist zugunsten der tatsächlich gemeinten Aussage an sehr wenigen Stellen leicht modifiziert worden" (31f.). Das ist problematisch, weil Lehnert seine Veränderungen an Stampfers Text nicht kennzeichnet beziehungsweise den Lesenden den ursprünglichen Text nicht zum Vergleich an die Seite stellt. Und woher weiß der Herausgeber eigentlich, was Stampfer "tatsächlich gemeint" hat? Um eine wissenschaftliche Edition handelt es sich jedenfalls nicht: Es gibt keinen Kommentar, keinen Nachweis von Zitaten, keine Literaturhinweise, keine Realienklärung zum laufenden Text.
Stampfers Manuskript widmet sich der Entstehung, den politischen und wirtschaftlichen Strukturen und der Zerstörung der Weimarer Republik. Von Interesse für die heutige Leserschaft sind vor allem einige mitunter sehr eigentümliche politische Urteile Stampfers, insbesondere seine durchgehend vernichtende Einschätzung des Friedensvertrags von Versailles, für dessen Unterzeichnung durch die deutsche Regierung die Angst vor fremder Besetzung entscheidend gewesen sei (96), während tatsächlich 1919 "alle Deutschen" so gedacht hätten wie Walther Rathenau, der die Ablehnung und die Levée en masse gefordert und als Folge der Vertragsunterzeichnung den "rettungslosen Verfall" Deutschlands vorausgesagt habe (253). Stampfers Darstellung ist hier schlicht falsch. Gleichermaßen bemerkenswert sind Stampfers ebenso durchgehende unkritische Wertschätzung für den Zentrumspolitiker Joseph Wirth, seine gnadenlose Kritik an der Haltung der Westmächte gegenüber der nationalsozialistischen Außenpolitik - "Frankreich und England haben alles, was in ihren Kräften stand, getan, um Hitler zum erfolgreichsten Staatsmann Deutschlands zu machen" (107); die Demokratien hätten Hitler "redlich" geholfen, "den Krieg vorzubereiten" (311) - oder seine Behauptung, Demokratie in Deutschland sei "nur als sozialistische Demokratie möglich" (184).
Stampfer zeigte sich verständlicherweise darum bemüht, den Anteil der (Mehrheits-)Sozialdemokratie an den Erfolgen der Weimarer Demokratie ins rechte Licht zu rücken. Besonders zur Außenpolitik der Weimarer Republik finden sich einige Einsichten, die noch für die gegenwärtige historische Forschung von Bedeutung sind: So hätten "die Sozialdemokraten mit der größten Entschiedenheit die Westorientierung" der deutschen Außenpolitik vertreten (98), und "Stresemann, der Außenminister, war im großen Ganzen nur der Vollstrecker des außenpolitischen Willens der Sozialdemokratie. Was er ausführte, hatten schon viel früher, als er noch ein alldeutscher Annexionist war, die Sozialdemokraten angestrebt" (146); "hinter der neuen Friedenspolitik" hätten "die deutschen Sozialdemokraten als treibende Kraft" gestanden (205). [2]
Der abschließende Teil von Stampfers "Der Kampf um Deutschland" betiteltem Manuskript widmete sich dem "Kampf um die Zukunft" und fasste seine Vorschläge zum Umgang mit Deutschland nach dessen absehbarer Niederlage im Zweiten Weltkrieg zusammen. Stampfer forderte vehement die Erhaltung der Vorkriegsgrenzen von 1937 und eine neue Chance für eine international gleichberechtigte und mittelfristig wiederbewaffnete deutsche Demokratie. Sie sollte "im Rahmen eines Welt-Völkerbundes" in einen "Europa-Bund zur Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt und zur Erhaltung des Friedens" unter anglo-amerikanischer Führung integriert sein (326) - also in ein transatlantisches Bündnis westlicher Demokratien, in dem für die Sowjetunion faktisch kein Platz war. [3] In diesen Überlegungen enthüllt sich der Kern von Stampfers außenpolitischem Denken, das durch ein hohes Maß von Kontinuität geprägt war und bis heute nicht an Relevanz verloren hat.
Detlef Lehnerts mit Fleiß erstellte Monografie und seine Edition mögen dazu beitragen, Friedrich Stampfer wieder ins historische Bewusstsein zurückzurufen. Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten sind beide Arbeiten mit Mängeln behaftet. Insbesondere das mit ihnen verbundene Erkenntnisziel bleibt unklar.
Anmerkungen:
[1] Detlef Lehnert: Die Weimarer Republik. Parteienstaat und Massengesellschaft, Stuttgart 1999.
[2] In diesem Sinne zuletzt Rainer Behring: Hermann Müller und die Außenpolitik der Weimarer Republik. Zur sozialdemokratischen Qualität republikanischer Außenpolitik, in: Andreas Braune / Michael Dreyer (Hgg.): Weimar und die Neuordnung der Welt. Politik, Wirtschaft, Völkerrecht nach 1918, Stuttgart 2020, 3-25.
[3] Lehnert versäumt es, darauf hinzuweisen, dass dieser Teil von Stampfers Manuskript bereits intensiv analysiert und kontextualisiert wurde. Vgl. Rainer Behring: Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933-1945, Düsseldorf 1999, 492-544, hier insbesondere 520-526.
Rainer Behring