Joachim von Puttkamer: »Ich werde mich nie an die Gewalt gewöhnen«. Polizeibrutalität und Gesellschaft in der Volksrepublik Polen, Hamburg: Hamburger Edition 2022, 600 S., ISBN 978-3-86854-367-4, EUR 45,00
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Jochen Böhler / Stephan Lehnstaedt (Hgg.): Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939-1945, Osnabrück: fibre Verlag 2012
Corinna Felsch: Reisen in die Vergangenheit? Westdeutsche Fahrten nach Polen 1970-1990, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Reinhold Vetter: Polens diensteifriger General. Späte Einsichten des Kommunisten Wojciech Jaruzelski, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2018
Gernot Briesewitz: Raum und Nation in der polnischen Westforschung 1918-1948. Wissenschaftsdiskurse, Raumdeutungen und geopolitische Visionen im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, Osnabrück: fibre Verlag 2014
Włodzimierz Borodziej / Jerzy Kochanowski / Joachim von Puttkamer (Hgg.): »Schleichwege«. Inoffizielle Begegnungen sozialistischer Staatsbürger zwischen 1956 und 1989, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010
Jochen Böhler / Włodzimierz Borodziej / Joachim von Puttkamer (Hgg.): Dimensionen der Gewalt. Ostmitteleuropa zwischen Weltkrieg und Bürgerkrieg 1918-1921, Berlin: Metropol 2020
Polizisten (und seit der Öffnung dieses Berufes für Frauen auch Polizistinnen) sind gesetzlich befugt, in bestimmten Situationen Gewalt anzuwenden. Sie tun dies aber keineswegs nur im Rahmen dieser Befugnisse. Ob bei gewöhnlichen Festnahmen, im Einsatz gegen Menschenmengen oder im Gewahrsam auf der Wache - in allen politischen Systemen, ob demokratisch oder autokratisch, ist der im Wortsinn überschreitende, exzessive, Missbrauch der Gewaltmittel durch Polizisten anzutreffen, und dies in unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität. Es ist der große Vorzug der Studie von Joachim von Puttkamer, dass er in seiner fulminanten Gesellschaftsgeschichte der Polizeigewalt in der Volksrepublik Polen (VRP) dieses der Institution Polizei inhärente "Betriebsrisiko" nicht lediglich als unvermeidlichen Ausfluss kommunistischer Herrschaftspraxis abhandelt. Die endemische Brutalität der sogenannten Bürgermiliz - so die Bezeichnung der uniformierten öffentlichen Polizei im damaligen Polen - dient vielmehr als roter Faden durch dreieinhalb Jahrzehnte des - figurativen wie physischen - offenen Schlagabtauschs zwischen Gesellschaft und polnischer Obrigkeit. Entlang deren bekannter Zäsuren - 1956, 1968, 1970, 1980/81, 1989 - und den ruhigeren Phasen dazwischen verbindet der Autor atmosphärisch dichte Beschreibungen mit nüchterner Analyse von Herrschaft und Widerstand.
Wie in anderen Volksrepubliken dieser Zeit ist die Einbettung der Polizei in das größere Ensemble, das von den Gewaltapparaten Staatssicherheit, Militär und Polizei sowie der Führungsspitze der Staatspartei gebildet wird, entscheidend für ihre Autorität und Stellung im Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern. Solange in den Verhörzimmern der Geheimpolizei noch systematisch gefoltert wurde, stand der exzessive Gebrauch des Knüppels durch Milizionäre im gesellschaftlichen Alltag noch für unwillkommene, aber hinzunehmende Begleiterscheinungen des Kampfes gegen den in der Gesellschaft grassierenden "Hooliganismus". Dieser etwas unscharf bleibende Terminus meinte in der VRP vor allem die Alltagsgewalt zwischen Bürgerinnen und Bürgern und nicht in erster Linie - wie etwa im Fall der analogen Begriffsbildung in der DDR - das als "Rowdytum" etikettierte Verhalten unangepasster und westlich gekleideter Jugendlicher. Gomulka trat im Oktober 1956 mit dem Versprechen vor die aufgewühlte Nation, mit der Folter der politischen Polizei Schluss zu machen, während die Miliz stabile Verhältnisse im Alltag besorgen sollte.
Mit diesem Versuch der Relegitimierung staatlicher Ordnung sind die polnischen Kommunisten gründlich gescheitert. Insbesondere die Spezialeinheiten für das Riot Policing, die motorisierten freiwilligen Reserven der Bürgermiliz, ZOMO (Zmotoryzowane Odwody Milicji Obywatelskiej) und ORMO (Ochotnicza Rezerwa Milicji Obywatelskiej), kamen immer wieder in kritischen Situationen öffentlicher Proteste zum Einsatz und trugen dort entscheidend zur Gewalteskalation bei - so 1966 im Zusammenhang mit der Tausendjahrfeier der Taufe Polens, 1968 beim Einsatz gegen Studenten in Warschau und 1970 gegen streikende Arbeiter in Danzig. Parallel dazu blieb die Gewalt im Polizeialltag in Gewahrsamen und beim Straßendienst endemisch - allerdings noch ohne von der politischen Opposition als Agenda eigenen Rechts identifiziert und thematisiert zu werden. Dazu kam es, so von Puttkamers sorgfältige Rekonstruktion, ab circa 1977 zunehmend im Rahmen der Aktivitäten von Bürgerrechtskomitees wie dem 1976 gegründeten Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR), die wiederholt selbst gewaltsam angegriffen wurden. Den autobiographischen Aufzeichnungen des KOR-Gründers Jacek Kuron, dessen privat organisierte Vorlesungen von regimetreuen Studenten heimgesucht wurden, ist auch der Titel des Buches entnommen: Die Gewalt "erscheint uns doch jedes Mal jungfräulich. Mir zumindest. Ich werde mich nie an sie gewöhnen." (435).
In der Folgezeit bis zum Ende der VRP avancierte die ursprünglich nebensächliche und mehr oder weniger fatalistisch hingenommene "banale" Gewalt des Volksmilizionärs zum Lackmustest des Verhältnisses von Staat und Bürger (und auch Bürgerinnen, die im Großen und Ganzen aber weniger oft verprügelt und geschlagen wurden). Rechtsanwälte und kritische Intellektuelle nahmen sich nun gezielt dieser Thematik an und begannen systematisch, die Polizei zu beobachten, Einzelfälle zu dokumentieren und Unterstützung der Polizeiopfer zu organisieren. Eine systemische und in anderen Volksrepubliken dieser Zeit wie etwa der DDR und der ČSSR nicht anzutreffende Bedingung für die politische Hebelwirkung dieser Advocacy-Strategien waren die Rechtswege, die das Justizsystem den Betroffenen, ihren Anwälten und Anwältinnen anbot: Die Erfolgsaussichten waren gering, aber nicht gering genug, um sie nicht doch wo immer möglich zu beschreiten. Die Verhandlungen fanden oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, bildeten aber dennoch Arenen, in denen Bürger und Bürgerinnen zusammen mit ihren Anwälten hartnäckig mit dem Staat um Grundfragen der Gesetzlichkeit staatlichen Handelns rangen. Dank der enormen Verbreitung des "zweiten Umlaufs" (der polnischen Variante des Samizdat) und der Etablierung professionell betriebener Watchdog-Gruppen bekam Polen etwas, was zu dieser Zeit in westlichen Gesellschaften selbstverständlich war, nämlich eine unabhängige Polizeikritik. Diese bildete einen integralen Bestandteil der breiten Palette an politischen Agenden, die in den von Solidarność-Gründung, Kriegsrecht und dem Übergang zu demokratischen Verhältnissen geprägten 1980er Jahren ausgehandelt wurden. Im Gegensatz zu zahlreichen eher abstrakt gehaltenen Betrachtungen über Zivilgesellschaft und Spätsozialismus zeigt von Puttkamers dichte Beschreibung des Niedergangs kommunistischer Herrschaft aufs Anschaulichste, dass dieser von Menschen erkämpft wurde, die begannen, in präzise bestimmbaren Situationen als Bürgerinnen und Bürger Rechte einzuklagen und sich so als Zivilgesellschaft konstituierten.
Von Puttkamers ausgezeichnet lesbare und materialreiche Studie lädt zu einigen Anschluss- und Kontextualisierungsfragen ein, deren Nichtbehandlung angesichts des schieren Umfangs dieser Monografie durchaus gerechtfertigt ist. Aus der Perspektive der Geschichte von Staatsrecht und Polizei stellt sich die Frage nach deren Vor-Geschichten in Polen, dessen Territorium im 19. Jahrhundert durch drei verschiedene Rechtskulturen geprägt war; erst ab 1918 gab es ein einheitliches Polizeiwesen, bevor dann nach 1945 das leninistisch-stalinistische Staatsverständnis diese Tradierungen zu überformen begann. Des Weiteren verdient das Phänomen des "Hooliganismus" eingehendere Betrachtung in sowohl diachron wie synchron vergleichender Perspektive. Von Puttkamers Gebrauch dieser Chiffre changiert zwischen kritischer Dekonstruktion, die Stigmatisierung von Randgruppen und Jugendlichen thematisiert, sowie affirmativem Gebrauch, wenn es um Benennung einer alltäglichen Gewaltkultur im Zusammenleben von Familien und Nachbarn und im öffentlichen Raum geht, also um ein reales Geschehen, dem wirksam entgegenzutreten eine Legitimitätsquelle der Miliz sein sollte - wobei ihre Angehörigen selbst zu dieser Alltagsgewalt beitrugen. Gerade die detaillierten Schilderungen und Einzelfallanalysen, wie sie dieses überaus gelungene Beispiel einer integrierten Polizei-, Politik- und Gesellschaftsgeschichte ausbreitet, sind für ein tieferes Verständnis alltäglicher Verhältnisse von physischer Gewalt, Staatlichkeit und Sozialkultur unverzichtbar.
Thomas Lindenberger