Nina Kreibig: Institutionalisierter Tod. Die Kultur- und Sozialgeschichte der Berliner Leichenhäuser im 19. Jahrhundert (= Tod und Agency. Interdisziplinäre Sudien zum Lebensende; Bd. 2), Bielefeld: transcript 2022, 548 S., 3 Kt., 22 Abb., 5 Tbl., ISBN 978-3-8376-6340-2, EUR 64,00
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Wie auch immer man "Moderne" im Einzelnen definieren mag, sie ließ keinen Aspekt des Lebens unberührt - nicht einmal das Sterben. Denn das revolutionäre 19. Jahrhundert revolutionierte auch den Umgang mit dem Tod und den Toten. An seinem Anfang stand, was in modernen Augen wie ein Überbleibsel vormodern-irrationaler Zeiten aussehen mag: eine weit verbreitete Furcht davor, lebendig begraben zu werden. Die Lösung war die Einrichtung eines Übergangsorts zwischen Leben und Tod, eines Bahnhofs für die Reise ohne Wiederkehr, von der man glaubte, dass manche vielleicht doch zurückkehren würden: Leichenhaus und Leichenhalle. (Aber, um einen Irrtum des Rezensenten gleich von vornherein auszuräumen, nicht, oder jedenfalls im Untersuchungszeitraum noch nicht, Leichenschauhäuser.)
Das Leichenhaus war eine "nicht-medizinische Antwort auf ein gravierendes medizinisches Problem", nämlich dem "Unvermögen der damaligen Ärzteschaft, den Tod des Menschen zeitnah und präzise zu diagnostizieren" (13). Als Vorsichtsmaßnahme waren die Leichenhäuser allerdings ein Fehlschlag: In der Zeit ihres Bestehens wurde hier niemand wieder lebendig. Vor dem Hintergrund wachsender Städte nahm im selben Maß, in dem die Furcht vor dem Scheintod abnahm, die Furcht vor der Ansteckung zu. Damit erhielt das Leichenhaus eine neue, hygienische Funktion. Außerdem fungierte es als Abschiedsraum, in dem nun die Trauerfeierlichkeiten stattfanden. Der Zug in die Moderne war jedenfalls abgefahren: Mit der Verbannung der ehemals zuhause aufgebahrten Toten aus dem Heim, dem Reich der Lebenden, kam es zu einer zunehmenden Tabuisierung des Todes oder zumindest gingen beide Entwicklungen eng miteinander einher.
So jedenfalls argumentiert Nina Kreibig in ihrer Berliner Doktorarbeit, in der sie die Geschichte der Leichenhäuser - speziell der Berliner Leichenhäuser - im 19. Jahrhundert rekonstruiert. Die Einleitung führt in Thema, Forschungsstand, Leitfragen, Theorie, Zugänge, Quellen und Aufbau ein (43 Seiten) und hebt insbesondere emotionshistorische und raumtheoretische Ansätze sowie einen Fokus auf die Agency der Beteiligten hervor. Darauf folgt ein zweite Einleitung, die "Vorgeschichte" heißt und in zwei Unterkapiteln, wiederum in acht Teile gegliedert, Aspekten wie Todesvorstellungen, medizinische Konzepte, der Furcht vor dem Sterben und der Genese der Leichenhäuser erschöpfend nachgeht - erschöpfend auch für die Leser:innen. Denn hier bleibt kein Begriff undefiniert, kein Kontext unerwähnt. Oder anders gesagt: auf Seite 141 angekommen, haben wir noch kaum ein Leichenhaus von innen gesehen.
Das holt der zentrale Teil der Arbeit "Neue Strukturen: Die Leichenhausfrage in Berlin (1794-1871)" nach - gegliedert in sechs Kapitel: "Orte und Räume", "Agency in der Leichenhausfrage", "Zur Chronologie der Berliner Leichenhausfrage", "Formalitäten und Restriktionen bei der Leichenhausnutzung", "Die Ambivalenz von Wunsch und Wirklichkeit", "Differenzen und Analogien" und sechzehn Unterkapitel. Dabei kommt es unweigerlich zu Überschneidungen und Redundanzen etwa im Kapitel zur Chronologie.
Wozu es nicht kommt, ist eine übergreifende Erzählung. Gerät die Arbeit doch einmal ins Erzählen, wird dies sofort durch einen Themenwechsel oder Exkurs erstickt. Trotz aller Betonung von Agency bleibt am Ende keine Person, keine Gruppe im Gedächtnis. Braudels menschenfressender Historiker würde hier verhungern. Was hat nicht Richard Cobb in Death in Paris (Oxford 1978) mit einem ähnlichen Thema angestellt? Der Vergleich ist natürlich unfair und trotzdem: ohne viel Aufhebens um Agency gelingt es Cobb auf weniger als einem Drittel der mehr als 500 Seiten umfassenden Dissertation vergangene Schicksale zum Leben zu erwecken.
Vielleicht wäre eine Erzählung aber auch zu viel verlangt, zumal in einer Doktorarbeit. Angesichts der anhaltenden Vorbehalte der deutschen Geschichtswissenschaft gegenüber dem Erzählen wäre das möglicherweise sogar schädlich. Was man dennoch erwartet, ist eine Reduktion des Stoffes auf das Verdaubare. Braucht es etwa wirklich einen zehnseitigen Exkurs zum Leichenfuhrpachtfond (267-278)? Wer ein Buch schreibt, muss alles über sein Thema wissen - seine Leserinnen müssen es nicht. Sie können - Menschenfresser oder nicht - mit einigem Recht erwarten, dass es ihnen mundgerecht serviert wird, nicht dass sie sich am Buffet ihre eigene Geschichte zusammenstellen müssen. Auch in anderer Hinsicht macht das Buch es seinen Leser:innen nicht leicht. Warum erfährt man zum Beispiel trotz des langen Vorlaufs erst im Schlussteil, dass 29 Leichenhäuser auf 25 Friedhöfen analysiert wurden? Ebenfalls erst zum Schluss wird deutlich, dass das Leichenhaus ein bürgerliches Projekt für die unteren Klassen war, die in der Großstadtenge ihre Toten nicht daheim aufbahren konnten, dass die Leichenhäuser aber zumindest anfangs nur von bessergestellten Schichten genutzt wurden. Bezeichnenderweise waren im 19. Jahrhundert mitunter (allerdings nicht in Berlin) auch diese Wartesäle nach Geschlecht und Klasse getrennt: der Tod sollte nicht vereinen, was die bürgerliche Gesellschaft getrennt hatte.
Wer eine Doktorarbeit bespricht, tut gut daran, deren Leistungen der Autorin, die Defizite aber den Betreuenden - bzw. einer an deutschen Universitäten strukturell defizitären Betreuung - anzulasten sowie den Herausgeberinnen der Reihe, in der dieses Buch als zweiter Band erschienen ist. Und deshalb endet diese Besprechung nicht mit Kritik, sondern mit den Leistungen des Buches. Denn eine Geschichte des Leichenhauses gab es bislang nicht. Nina Kreibig hat sie zusammengetragen in wahrer Kärrnerarbeit aus einer Vielzahl über die Berliner Archive und einen großen Korpus in zeitgenössischer Literatur verstreuten Puzzleteile. Kein Wunder also vielleicht, dass das Werk ein Stück weit Puzzle bleibt. Aber warum sollten wir uns überhaupt für die Geschichte von Leichenhäusern interessieren? Oder zeigt etwa diese Frage schon, wie sehr die Tabuisierung des Todes, die im 19. Jahrhundert begann, anhält, wie sehr das 19. Jahrhundert uns noch in seinem Griff hält? Führt nicht die Frage, wie eine Gesellschaft mit ihren Toten umgeht, direkt in das Herz einer Gesellschaft, wie dies Thomas Laqueur in seinem noch dickeren, noch ausschweifenderen Buch The Work of the Dead (Princeton 2015) gezeigt hat? Wer über dieses Thema schreibt, hat es mit den größtmöglichen Abstrakta zu tun: Leben, Tod und den hierauf bezogenen Ideen und Emotionen. Und mit den kleinsten Details: Wohin mit den Toden in sich ständig ausdehnenden Städten? Wie hat ein Haus der Toten auszusehen? Wie kommen sie da hin, wie lange bleiben sie, wie hält man sie kühl? Auf diese Fragen gibt es dank Institutionalisierter Tod nun Antworten.
Tobias Becker