Christine Ganslmayer / Helmut Glück / Hans-Joachim Solms: Luthers Deutsch in Mittel- und Osteuropa (= Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart; Bd. 21), Wiesbaden: Harrassowitz 2021, XVIII + 326 S., ISBN 978-3-447-11215-4, EUR 58,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Das Buch beruht auf dem germanistischen Forschungsprojekt "Die Ausstrahlung der Schriften Luthers auf die Sprachen Mittel- und Osteuropas", das von 2016 bis 2019 an der Universität Halle-Wittenberg unter der Leitung von Hans-Joachim Solms (Halle) und Helmut Glück (Bamberg) durchgeführt wurde. Zuerst wurden Konzept und Methodik 2016 auf einer Arbeitstagung in Wittenberg erarbeitet, und die im Band versammelten Beiträge wurden dann auf einer Konferenz, die im März 2018 an der Landesbibliothek Coburg stattfand, vorgetragen.
Als ich zuerst von dem Projekt hörte und dann die Tagungsberichte las, war ich zugegebenermaßen ziemlich skeptisch. Es befremdete mich auch ein Untertitel im Coburger Tagungsprogramm: "ein vergessener Aspekt der Reformationsgeschichte". Dieser Aspekt war meines Erachtens einerseits gar nicht so vergessen, denn Adolf Schullerus veröffentlichte vor genau 100 Jahren seine Monografie Luthers Sprache in Siebenbürgen [1], und die Lutherrezeption ist auch seitdem in dieser Region intensiv erforscht worden, andererseits wirkte das kontrastive linguistische Projekt auf ersten Blick höchst innovativ, was mit "vergessenen Aspekten" nichts zu tun hat. Diese Eindrücke und Einwände wurden nun aber durch das Lesen der Beiträge im Wesentlichen beseitigt.
Das Forschungsprojekt sucht nach Spuren von Martin Luthers Deutsch in den Sprachräumen Mittel- und Osteuropas und befasst sich mit der Frage, ob Luthers Deutsch sichtbare Spuren in den slawischen, baltischen und finnougrischen Nachbarsprachen hinterlassen hat: In welcher Weise haben sich Luthers Schriften in Übersetzungen auf andere Sprachen ausgewirkt? Dabei waren die an diesem Projekt beteiligten Germanisten auf die Mitwirkung von Slawisten, Baltisten und Finnougristen angewiesen. Ursprünglich waren auch Referenten für Siebenbürgen und den Balkan vorgesehen, schließlich wurde aber das Projekt teils aus inhaltlichen, teils aus praktischen Gründen etwas enger eingegrenzt. Dieser von sprachlicher Vielfalt geprägte Ansatz wurde für den Band um einige Germanisten bereichert, um aus deren "Binnenperspektive" das Projekt in die zeitgenössische Lutherforschung einzubetten (6 folgend).
Der Zusammenhang zwischen den zwei Perspektiven liegt zwar auf der Hand, der Tagungsband zerfällt aber doch in zwei nicht miteinander verbundene Teile. Der erste davon, dessen Beiträge mehrere Forschungsdesiderata erschließen, lässt sich durchaus als bahnbrechend bezeichnen. Die Beiträger waren hier nämlich gezwungen, die Grenzen ihres gewohnten Forschungsgebietes zu überschreiten. Die komplexe Problematik mit ihren linguistischen, philologischen, translatorischen und theologischen Aspekten sowie die Vielfalt der Sprachen bzw. Sprachfamilien sorgen für innovative Forschungsergebnisse. Zwar finden sich auch im zweiten Teil spannende Einzelstudien und gut gelungene Überblicksdarstellungen, sie bewegen sich aber innerhalb der Komfortzone der klassischen Germanistik.
Glücks Werkstattbericht zufolge musste als erster Schritt ein Textkorpus bestimmt werden, der nicht nur aus Luthertexten besteht (Passagen aus der Lutherbibel und dem Kleinen Katechismus sowie einige Strophen der Lutherlieder), sondern auch aus charakteristischen Wortbildungen und Wendungen. Die Experten sollten Übersetzungen und Entsprechungen von diesen Exzerpten und Formulierungen in neun Nachbarsprachen untersuchen. Eine solche Auswahl ist immer etwas willkürlich, und es lässt sich natürlich streiten über sie. Die Phraseme "die Axt an die Wurzel legen" (Matthäus 3,10) und "sein Licht unter den Scheffel stellen" (Matthäus 5,15; Lukas 8,16) sind meines Erachtens suboptimal, denn sie geben den biblischen Urtext wortgetreu wieder. Dadurch ist es schwierig zu entscheiden, ob eine spätere Übersetzung der Lutherbibel oder der Vulgata beziehungsweise einer griechischen Vorlage folgt.
Der Werkstattbericht weist schließlich auf sehr wichtige Aspekte der Diglossie und Polyglossie als offene Fragen hin. Die deutschen Sprachinseln in Mittel- und Osteuropa spielten gewiss eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Sprache Luthers. Meiner Erfahrung nach erfolgte die entscheidende Vermittlung aber nicht zwischen deutschen Städten und "undeutscher" Umgebung, sondern in bereits zwei- oder mehrsprachigen Gemeinschaften, wie das weiter unten erwähnte Beispiel des siebenbürgischen Klausenburgs aufschlussreich zeigt.
Und nun zum Herzstück des Tagungsbandes! Kristiina Ross entdeckt zwar nur wenige Lutherspuren in den estnischen Entsprechungen, jedoch scheinen drei Wendungen direkt aus der Lutherbibel zu stammen. Pēteris Vanags stellt fest, dass der in der 1530er Jahren verfasste lettische Katechismus mittels einer nicht näher zu bestimmenden niederdeutschen Übertragung auf Luthers Werk fußt. Anna Helene Feulner kommt in der Untersuchung einer altlitauischen Postille von 1591 zu dem Ergebnis, dass Luthers Ausdrucksweise plastischer, bildlicher und umgangssprachlicher gewesen sei als der Urtext der biblischen Perikopen. Der Verfasser der Postille, Johannes Bretke, orientiere sich zwar an der Lutherbibel, opfere jedoch nicht die eigenständige litauische Syntax. "Unlitauische" Wendungen kämen bei ihm nur als Verlegenheitslösungen vor. Felix Thies identifiziert die Schreibung von alttestamentlichen Namen in sorbischen und baltischen Bibelübersetzungen eindeutig als Lehnformen aus der Lutherbibel (89). Helmut Keipert weist auf ein Phrasem im heutigen Russisch hin, das auf eine Lutherwendung zurückgehen müsse ("durch die Finger sehen"), darüber hinaus nähmen einige biblische Sprichwörter Anleihen bei der Lutherbibel. Gerhard Meiser bescheinigt der Brester Bibel von 1563 ein "schönes Polnisch", was den Prinzipien von Luthers "Sendbrief vom Dolmetschen" (1530) entspreche. Demgegenüber vertrete die auf ihr beruhende Danziger Bibel (1632) als Übersetzungsmethode eine geradezu ängstliche Wörtlichkeit (124). Roland Marti weist nach, dass sorbische Bibeln je nach Konfession eng ihren Vorlagen folgen, die evangelischen also der Lutherbibel (139). Jiří Černý hebt hervor, dass Luther in Böhmen in den 1520er Jahren "ein großes Medienecho", sowohl auf Deutsch als auch auf Tschechisch, ausgelöst habe, was unter anderem auf seine Gleichordnung mit Ján Hus zurückzuführen sei. Die meisten Nachdrucke erfuhren Lutherschriften, die ursprünglich an Adressaten in Böhmen gerichtet waren. Petra Verebics konstatiert, dass unter den ungarischen Bibelübersetzern der Klausenburger Caspar Helth derjenige sei, der bewusst und eng das Luther'sche Werk imitiert habe. Als ein Parergon dieser Untersuchung ist der Nachweis zu betrachten, dass Helths Übertragung auch die spätere Standardbibel (Vizsoly, 1590) maßgeblich beeinflusste. Gerhard Giesemann weist auf Germanismen im Œuvre des Slowenen Primož Trubars hin, der auch in theologischen Fragen seinem Wittenberger Meister sehr nahegestanden habe.
Im germanistischen Teil erörtern Silvia Pfister und Isolde Kalter die Entstehungsgeschichte des "Sendbriefs vom Dolmetschen"; Christine Ganslmayer und Gerhard Karner veranschaulichen an einem exemplarischen Autograf aus der Coburger Zeit Luthers Übersetzungsmethode; Anja Lobenstein-Reichmann sammelt Sprachreflexionen aus dem Luther'schen Gesamtwerk; Oskar Reichmann analysiert Luthers paradoxen Freiheitsbegriff als ein europäisches, sprachenübergreifendes Semantikgeflecht (Consemanticum); schließlich untersucht Sebastian Seyferth die zeitgenössische Kritik am Septembertestament durch Hieronymus Emser und Urbanus Rhegius.
Die Herausgeber werden von einer Großzügigkeit geleitet, die an Verschwendung grenzt. Jeder Studie geht ein gleichsprachiges Abstract voraus, und die Literaturverzeichnisse erstrecken sich pro Studie oft über 4-5 Seiten, wobei Bände der Weimarer Ausgabe sowie sonstige Schriften Luthers stets aufs Neue einzeln aufgeführt sind. Hier wäre ein Abkürzungsverzeichnis für die verwendeten Titel sinnvoll gewesen. Neben einem Register der Bibelstellen bietet das Werk lediglich ein Register "zentraler" Orts- und Personennamen, beide erstellt von Ganslmayer.
Der Tagungsband beweist, dass in dem Projekt Experten unterschiedlicher Disziplinen, nationaler Herkunft und Forschungserfahrungen fruchtbar zusammengearbeitet haben. Die Initiative hat neues Terrain sowohl für kontrastive linguistische Forschungen als auch für die Wirkungsgeschichte der deutschen Reformation in den östlichen Nachbarländern erschlossen.
Anmerkung:
[1] Adolf Schullerus: Luthers Sprache in Siebenbürgen. Bd. 1: Das Mediascher Predigtbuch. Forschungen zur Siebenbürgischen Geistes- und Sprachgeschichte im Zeitalter der Reformation, Hermannstadt 1923.
Zoltán Csepregi