Jan von Bonsdorff / Kerstin Petermann / Anja Rasche (Hgg.): Gotland. Kulturelles Zentrum im Hanseraum. Cultural Centre in the Hanseatic Area (= Coniunctiones- Beiträge des Netzwerks Kunst und Kultur der Hansestädte; Bd. 2), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2022, 240 S., 182 Farb-Abb., ISBN 978-3-7319-0994-1, EUR 39,95
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Der zweite Band der Reihe "Coniunctiones - Beiträge des Netzwerks Kunst und Kultur der Hansestädte" eint 15 Beiträge der vom 31. August bis 1. September 2015 in Visby ausgetragenen internationalen und interdisziplinären Tagung "Gotland - Cultural Centre in the Hanseatic Area". Erweitert wird der Band um zwei Artikel, einen zur Glasmalerei und einen zu Stifterlogen und Privatoratorien. In vier Themenblöcken werden die herausragende handelspolitische und kulturelle Stellung der Hansestadt Visby im Ostseeraum sowie der Umgang mit dem kulturhistorischen Erbe Gotlands dargestellt. Nicht nur die Stadt selbst partizipierte an den Kontakten der ansässigen Kaufleute mit Wirtschaftspartnern aus dem östlichen und südwestlichen baltischen Raum, sondern die gesamte Insel hatte Teil an dem daraus resultierenden ökonomischen Wohlstand, der wiederum die Voraussetzung für das reiche kulturelle Erbe Gotlands war.
Im ersten Themenblock "Gotland - Handelszentrum im Mittelalter" werden die von Anfang an engen Beziehungen Visbys und Lübecks dargelegt, die, so Rolf Hammel-Kiesow, nicht ihren alleinigen Ursprung in Gotland hatten, wie in der älteren deutschen Forschung immer wieder betont wird. Es war eine fein ausdifferenzierte Diplomatie, ausgehend von beiden Städten, die die Grundlagen für eine interterritorial agierende Kaufmannschaft legte. Visbys Handelsverbindungen und deren früh einsetzende administrative Organisation führten zu einer sich rasch entwickelnden kulturellen Blüte. Dabei war die Frühzeit gekennzeichnet von einem regen Kulturimport an neuen Ideen und Techniken. Es entstanden sich spezialisierende Werkstätten, die aus dem Übermittelten Neues schufen, das, so Jan von Bonsdorff, mit dem Aufbau der Handelslinien seine Verbreitung fand. Dieser Kulturtransfer, der von Anbeginn das Fremde integrierte, blieb bis weit ins 17. Jahrhundert ein wesentlicher Bestandteil hansischen Denkens. Detailliert erläutert Iwan A. Iwanov die sich daraus aufbauenden, über Visby laufenden Wirtschaftskontakte zwischen Lübeck und Russland.
Innerhalb des Themenblocks "Künstlerische Austauschprozesse" wird die Bereitschaft der Gotländer zu neuen künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt. Das sich aus der Vielzahl an Innovationen entwickelnde Wissen um Techniken in der Materialverarbeitung und der Aneignung fremder stilistischer Ausformungen machte die gotländischen Werkstätten so erfolgreich, wie der von Tomasz Torbus beschriebene Export gotländischer Bauskulptur in den Ordensstaat Preußen belegt. Die Offenheit gegenüber anderen Werkstätten führte auch in einer Zeit, in der die eigene künstlerische Ausdrucksform bereits etabliert war, immer wieder zu Übernahmen neuer Stilformen und Bildthemen.
Deutlich machen dies die sieben Beiträge im Abschnitt "Gotlands Kirchen - Architektur und Ausstattung". Parallel zum fortschreitenden Wirtschaftskontakt Visbys zu weiteren Hansestädten im 13. Jahrhundert, insbesondere in den östlichen Ostseeraum, wurden, so Agnese Bergholde-Wolf, die Erzeugnisse der dortigen Werkstätten rezipiert. Im Zuge dieses Kontaktausbaus wurden immer wieder die eigenen Stilausprägungen und Themendarstellungen modifiziert - ein Vorgang, der sich an den überlieferten Kirchenausstattungen belegen lässt. Im 12. Jahrhundert erhielten einige Kirchen Gotlands Ausmalungen, deren stilistische, aber auch programmatische Vorbilder im Raum um Novgorod lagen, wie Barbara Schellewald ausführt. Im 14. Jahrhundert waren es Skulpturen französischer, englischer oder flämischer Werkstätten, die, so Tobias Kunz, durch Ankäufe gotländischer und in Visby lebender deutscher Kaufleute Eingang in die Kirchenausstattung fanden. Aber auch spezifisch gotländische Bildmotive lassen sich beobachten, wie die von Gerhard Weilandt beschriebene Seelenwägung Kaiser Heinrichs II., die, nach Bildvorlagen aus der "Sächsischen Weltchronik", als Wandmotiv ab der Mitte des 13. Jahrhunderts in Gotlands Kirchen Verbreitung fand. Damit erhielt dieses Thema rund 250 Jahre vor den Darstellungen in Süddeutschland seine erste Bildkonzeption im Kirchenraum. Die von Justin E. A. Kroesen vorgestellte, gut erhaltene gotländische Sakralausstattung ermöglicht einen Einblick in die rege mittelalterliche Stifterpraxis, ein Thema, das von Julia Trinkert und Jörg Widmaier dezidiert in ihren jeweiligen Beiträgen bearbeitet wird. Darüber hinaus erlaubt der umfangreiche Denkmalbefund eine Analyse des Austauschs von Werkstätten und Meistern, wie die von Elena Kosina beschriebenen Beispiele gotländischer Glasmalerei exemplarisch belegen. Innerhalb der Baugeschichte geht Jakob Lindblad der Weitergabe von Architekturelementen nach. Insbesondere aus dem Niederrheingebiet oder Westfalen kommende Vorbilder beeinflussten die gotländische Architekturausbildung und formten mit tradierten Motiven die spezifische gotländische Baukunst.
Der abschließende Themenblock "Erhaltung, Erforschung und Pflege des kulturellen Erbes" widmet sich, umfassend dargestellt von Lars Olof Larsson und Mattias Legnér, dem 'Wiederentdecker' der gotländischen Kunstlandschaft Johnny Roosval und seinen Verdiensten um deren Pflege und kunsthistorische Einordnung. Charlotte Klack-Eitzens skizzierte Fragestellung, in welchem Kontext die sich in Westfalen und Gotland befindenden Scheibenkreuze zueinanderstehen, beschäftigt sich nochmals mit dem Kulturtransfer und der schwierigen Zuordnung von Werkstattvorbildern und Rezipienten. Abschließend erläutert Anja Rasche die durchaus ambivalente Beziehung der Städte Visby und Lübeck zwischen Gemeinschaft und Konkurrenz. Die Erkenntnis, dass die konfliktreiche Geschichte mit ihrer Dynamik auch zu einem ertragreichen Zusammenspiel führte, gab den Anlass zur 1999 erfolgten Städtepartnerschaft.
Die Herausgeberinnen und der Herausgeber, selbst gute Kennerinnen und Kenner des hansischen Kunstraums, haben einen überaus sorgfältig redigierten Band zusammengestellt, der erstmals in dieser Bandbreite die wichtige kulturelle Stellung Gotlands im Ostseeraum darstellt. Dabei bietet der reich bebilderte Band nicht nur einen informativen Einblick in einen wichtigen Themenbereich der Hansegeschichte, sondern er ermöglicht, gerade durch die differenzierten wissenschaftlichen Blickwinkel, die Ausarbeitung weiterer wichtiger Forschungsansätze. Es ist das Verdienst von Jan von Bonsdorff, Kerstin Petermann und Anja Rasche, dass ein bislang eher randständiger Themenbereich - die kulturelle Vielfalt Gotlands und der daraus erwachsende Einfluss der Insel auf den Ostseeraum als Kulturraum - in den Fokus der Hanseforschung gestellt wurde. Es zeigt sich, dass im durchaus konfliktreichen hansischen Beziehungsnetzwerk gerade der kulturelle Austausch wichtige identitätsstiftende Impulse lieferte.
Katja Hillebrand