Jan Kleinmanns: Seltsam unverbunden. Breitensport in der DDR als öffentlich Sphäre zwischen System und Lebenswelt, Frankfurt/M.: Campus 2022, 273 S., ISBN 978-3-593-51503-8, EUR 36,00
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Wie gestaltete sich das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten auf dem Gebiet des Sports, das von Freiwilligkeit, Spontaneität und systemübergreifender Regelgebundenheit gekennzeichnet ist? Die vorliegende Arbeit "widmet sich vor allem dem Ziel, aufzuzeigen, wie der Prozeß der Ordnung der DDR-Gesellschaft zu einer eigensinnigen Verkapselung der gesellschaftlichen Teilgruppen führte. Es wird gezeigt werden, dass Teilgruppen wie Sportgemeinschaften sich zu eigenen Diskursräumen entwickelten, die als geschlossene Einheit gegenüber zentralen anderen Institutionen auftraten" (10). Untersuchungsgegenstand sollte der Breitensport werden, den der Autor als Baustein des Sporterfolges der DDR bezeichnet. Dies ist die erste völlig falsche Grundannahme des Verfassers. Beginnend mit dem System der Kinder- und Jugendsportschulen in den 1950er Jahren und vollends mit der Errichtung der Trainingszentren Ende der 1960er Jahre bestand der DDR-Sport faktisch aus zwei getrennten Bereichen: Leistungssport und Breitensport.
Als zeitlicher Rahmen der Untersuchung wird der Zeitraum von Mitte der 1940er bis Mitte der 1970er Jahre angegeben, wobei das Ende des Untersuchungsraums mit Änderungen begründet wird, "die sich vor allem in einem stärkeren Bezug zum Leistungssport äußerten". Das Gegenteil ist richtig: Mit der Perfektionierung des Nachwuchsleistungssports Anfang der 1970er Jahre war die endgültige Trennung des Breitensports von der Kaderpyramide mit ca. 75.000 leistungsorientierten "Kadern" vollzogen. Auch der Beginn ist ungenau angegeben: Über die Zeit des Improvisierens und Lavierens zwischen Kommunalsport, FDJ-Sport, Kulturbund-Sport vor 1948 erfährt man nichts. Und die Behauptung, dass "der organisierte Amateursport nach Kriegsende in der sowjetischen Besatzungszone rasch wieder aufgenommen wurde" (95), ist schlichtweg falsch.
Die Arbeit gliedert Kleinmanns in drei Teile: "Im ersten Teil wird erklärt, wie der Sport in der DDR strukturiert war, im zweiten Teil werden relevante Themenkomplexe zum Breitensport in einer Presseschau skizziert und im dritten Teil werden die Betriebssportlerinnen und Betriebssportler selbst betrachtet" (12). Während sich der zweite Teil auf die Auswertung der DDR-Presse und die umfangreiche Presseausschnittsammlung des ehemaligen Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen stützt, basiert der dritte Teil der Studie auf Akten von Betriebssport-Gemeinschaften (BSG) aus sieben regionalen Archiven.
In der Einleitung stützt sich der Verfasser auf die statistischen Jahrbücher der DDR, die angeblich "einen bestechend scharfen Einblick in die Entwicklung des ostdeutschen Breitensports und seinen Stellenwert" (25) geben. Durch die Nichtberücksichtigung der Beseitigung von Sportplätzen und anderen Sporteinrichtungen wäre die DDR sogar offiziell an die Weltspitze der Sportstättenversorgung gerückt, wenn der Chef des Deutschen Turn- und Sportvereins (DTBS) Manfred Ewald, der Begehrlichkeiten der sozialistischen Bruderstaaten und der 'Dritten Welt' befürchtete, eine entsprechende UNESCO-Meldung nicht verhindert hätte. Aufgrund der Unzuverlässigkeit von DDR-Statistiken stellt die ungeprüfte Übernahme der Erfolgszahlen einen methodischen Fehler dar. Dies gilt nicht nur für die Sportstätten und Sportlerheime, sondern auch für die angeblich stetig gestiegenen Mitgliederzahlen.
Positiv kann die präzise Darstellung der Konzepte "Eigensinn" sowie Lebenswelt und Alltag", die vor allem Alf Lüdtke entlehnt sind, hervorgehoben werden. Die Untersuchung anderer Aspekte des DDR-Sportssystem leuchten im Kontext der Thematik nicht ein: Was hat der Leistungssportbeschluss von 1969, der ausführlich dargestellt wird, mit dem Breitensport zu tun? Nichts! In diesem Beschluss des Sekretariats des ZK wurde bei einer Verdoppelung der Aufwendungen die intensivierte Sportförderung auf "medaillen- und punktintensive" olympische Sportarten konzentriert und vielen Mannschaftssportarten der Zugang zum institutionalisierten Leistungssportsystem verwehrt. Der sportpolitische Grund für diese Konzentration auf Medaillen wird nicht erwähnt. Als die DDR in der Zeit der gemeinsamen deutschen Olympiamannschaften von 1956 bis 1964 danach strebte, die Mehrheit der Teilnehmer zu stellen, waren Mannschaftssportarten (z.B. Feldhockey oder Wasserball) wichtig. Seit dem Zeitpunkt der olympischen Selbständigkeit der DDR zählten aber nur noch Medaillen. Aus welchen Gründen sich die am Ende des Untersuchungszeitraums eingeführte "einheitliche Sichtung und Auswahl zu einem bestimmenden Merkmal der Verknüpfung des DDR-Breitensports mit dem Spitzensport" (70) entwickelte, sollte schon begründet werden. Wenn DDR-Sichtungsspezialisten mit Hilfe des Sportlehrers in der Schule Talente für die Trainingszentren suchten, hat das mit dem Breitensport nur insoweit zu tun, als ihm Talente entzogen werden sollten. Diese wurden dann von Trainern gefördert, die dem Breitensport nicht mehr zur Verfügung standen. Den Breitensport "als Grundlage für einen erfolgreichen Spitzensport" anzusehen (76), ist ein grandioses Missverständnis der DDR-Sportrealität.
Der Exkurs zum Brettsegeln verlässt den Untersuchungszeitraum und übersieht frühere Darstellungen zum Thema. Im Rahmen des Kapitels "Sport in der DDR-Presse" geht der Autor unter anderem auf die Trendsportarten Karate, Triathlon und Bodybildung ein und verlässt erneut seinen Untersuchungszeitraum. Immerhin sieht er ein, dass die schon vielfach geschilderte Flucht der Dresdener Fußballmannschaft um Helmut Schön, die er auf drei Seiten thematisiert, "kein Beispiel aus dem Breitensport war" (115).
Gleiches gilt für das Kapitel 3.6. "Werte Vorleben - Sporthelden und Authentizität", in dem es vorrangig um den Sporthelden der DDR "Täve Schur" geht, der sich großer Popularität erfreute. Im Kapitel 3.7. "Angebissen - Angeln in der DDR" fehlt zur Erklärung der großen Anzahl der Angler in der DDR ein Hinweis auf den Reichtum an Gewässern in Ostdeutschland. Auch in der Bundesrepublik gab es eine Angelsportorganisation, was der Autor jedoch verneint. Nach dem Mauerbau thematisiert Kleinmanns die Flucht prominenter Sportler. Das ist zwar interessant, wie der Fall "Jürgen Kißner" zeigt, hat aber nichts mit Breitensport zu tun.
Im Rahmen seiner Regionalstudie über die Rostocker BSG Motor Neptun werden erfolgreiche Olympiateilnehmer aus Rostock vorgestellt, wobei Kleinmanns feststellt, dass keiner von ihnen der BSG angehörte, sondern dass sie Mitglieder der örtlichen Sportclubs Vorwärts oder Empor waren. Spätestens jetzt hätte er schlussfolgern müssen, dass Leistungssport und Breitensport getrennte und unverbundene Teilsysteme des DDR-Sports waren.
Dass im Schriftgut der untersuchten Betriebssportgemeinschaften Profanes wie der Bau einer Toilette und Politisches wie "Kampf dem Atomtod" unverbunden und mit unterschiedlichem Sprachduktus gefunden werden kann, ist ein typisches DDR-Phänomen, welches in vielen Lebensbereichen auftaucht. Ob es die Mühe lohnt, noch einmal in Archiven zu recherchieren, kann zu Recht hinterfragt werden.
Die von Kleinmanns vorgelegte Publikation kann leider nicht zur Lektüre empfohlen werden. Der Autor fällt mit seiner Darstellung hinter den aktuellen Forschungsstand zurück und zeigt eklatante methodische Schwächen. Eine fundierte Studie zum Breitensport in der DDR, die diese Bezeichnung verdient, bleibt nach wie vor ein Desiderat der sporthistorischen Forschung.
Hans Joachim Teichler