Thomas Knubben: Tobias Mayer. Oder die Vermessung der Erde, des Meeres und des Himmels, Stuttgart: S. Hirzel 2023, 215 S., 35 s/w-Abb., ISBN 978-3-7776-3084-7, EUR 24,00
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Der Mathematiker, Kartograph und Astronom Tobias Mayer (1723 - 1762) war im 18. und 19. Jahrhundert eine Berühmtheit, geriet aber dann für nahezu 100 Jahre aus dem Blickfeld der Historiker und liefert damit ein Beispiel dafür, wie einst große Leistungen von der Weiterentwicklung eines Wissensgebietes überrollt werden. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jhd. arbeiteten mehrere Forscher daran, diese Lücke wieder zu schließen, und dazu trugen zwei biographische Werke erfolgreich bei: die (wissenschaftliche) Biographie zu Tobias Mayer von Eric Gray Forbes (1980/2023) und die vorwiegend auf die Lebensumstände gerichtete Biographie von Thomas Knubben, die hier im Blickfeld steht.
In 16 Kapiteln schildert Thomas Knubben (Professor für Kulturmanagement an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg) das bemerkenswerte Leben des Professors für Ökonomie an der Universität Göttingen, an der dieser von 1751 bis zu seinem frühen Tod 1762 lehrte und forschte. Dabei gelingt es dem Autor, die wissenschaftlichen Leistungen Mayers ohne eine Formel in gut verständlicher Weise darzustellen und deren Bedeutung für die Fortschritte der Kartographie und Astronomie im 18./19. Jahrhundert herauszuheben. Um den Hintergrund zu beleuchten, geht der Autor in kurzweiligen Abschnitten auf die gesellschaftlichen und politischen Umstände ein, etwa, wenn er den Bogen schlägt von den Konflikten um die Anerkennung eines neuen wissenschaftlichen Weltbildes, geprägt durch Kopernikus, Kepler und Galilei, zu den Erkenntnissen des 18. Jahrhunderts in Mathematik, Geographie und Astronomie, die eben auch durch Tobias Mayer vorangebracht wurden. Thomas Knubben vermag es, ein lebendiges Bild der Lebensumstände zu zeichnen, in denen der 14-jährige Vollwaise seine Ausbildung weitgehend aus eigenem Antrieb verfolgt und trotz vieler Rückschläge und Enttäuschungen einen erfolgreichen Berufsweg einschlägt. Er führt ihn an Zentren wissenschaftlicher Initiativen (Augsburg: Kupferstich, Verlagswesen, Instrumentenbau; Nürnberg: Astronomie, Kartographie, Instrumentenbau; Göttingen: Universität, Akademie), an denen er die Anregungen für seine eigenen Interessensgebiete gewinnt. Die Verschränkung von Tobias Mayers Lebensumstände mit den alten und den aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen gelingt Knubben in besonderer Weise. Es entsteht so ein eindrückliches Bild von der Person Tobias Mayer, seinem Bildungsdrang und seinen Beiträgen zur Wissenschaft.
Während man über Mayers wissenschaftliche Tätigkeiten durch seine Publikationen gute Kenntnisse hat, sieht es für den privaten Sektor leider sehr dünn aus. So beginnt das Buch mit einem der wenigen privaten Ereignisse in Mayers Leben, von denen man belegbare Kenntnisse hat, seiner Hochzeitsreise von Nürnberg nach Göttingen. Der Autor nimmt dabei den Leser mit zu den zentralen Aufgaben, denen sich Mayer in seinem gerade beendeten in Nürnberg, aber auch in seinem zukünftigen Berufsfeld in Göttingen zu stellen hat. So ganz nebenbei werden die Bedeutung präziser Landkarten und die Aspekte genauer Beobachtungen zu deren Herstellung mitgeteilt. Am Ende des Einstiegs stellt Knubben die Frage, was Mayer zu einem Pionier der aufgeklärten Wissenschaft und sogar zu einem Prototyp eines Wissenschaftlers macht; dieser Frage will er in seinem Text nachgehen.
In den weiteren Kapiteln folgt der Autor Mayers Lebenslauf. Neben der Einordnung der Geburtsstadt Marbach am Neckar in das politische und soziale Umfeld werden die Nöte der Bewohner bei den ständigen Kriegshandlungen des 18. Jahrhunderts beleuchtet und dabei die allgemeine soziale Situation und speziell die der Familie Mayer geschildert. Die Jugendzeit von Tobias ist durch den Tod beider Eltern und durch die daraus folgende Versorgung des Waisen durch die Stadt Esslingen geprägt. Dabei macht Knubben deutlich, welche Einflüsse auf den Jugendlichen wirken, welche Hindernisse er bewältigen muss und welche Hilfen er bei der Herausbildung seiner Fähigkeiten erhält. Die ersten Publikationen, noch in Esslingen entstanden, zeigen wichtige Wesenszüge, vor allem sein Streben nach Bildung und seine Arbeitsweisen, die auf praktisch verwertbare Ergebnisse gerichtet sind. Der Aufenthalt Mayers in Augsburg und der Druck des "Mathematischen Atlas" 1745 stellen sich als entscheidende Ereignisse für den weiteren Lebensweg dar. Die hier entwickelten Talente zur theoretischen und praktischen Durchdringung des Kosmos zeigt Knubben mit gut erklärten und leicht verstehbaren Beispielen aus Mayers Arbeitsergebnissen. Der Autor geht in seiner Biographie auch auf die historische Entwicklung des wissenschaftlichen Umfeldes, wie es im 18. Jahrhundert vorzufinden ist, insbesondere auf die Vermischung religiöser und politischer Motive mit naturwissenschaftlichen Argumenten, ein und auf deren Vermeidung als Ziel der Aufklärung. Er stellt schließlich die Bedeutung der Städte Augsburg und Nürnberg für die Themen, die eine besondere Nähe zu Mayers Arbeitsfeldern haben, dar: Kartographie, Astronomie, Instrumentenkunde.
Aus der ersten beruflichen Anstellung Mayers in Nürnberg resultierte neben der Vielzahl von Kartenbearbeitungen auch ein bleibendes wissenschaftliches Ergebnis, die "Mappa Critica". Dies nimmt Knubben zum Anlass, über die Einführung des Begriffs "Kritik" in der Wissenschaft zu reflektieren und kritische Haltung als ein Prinzip wissenschaftlichen Denkens bei Mayer zu identifizieren. In einem Kapitel "Astronomie und Astrologie" werden die Konflikte zwischen Kirche und Wissenschaft, zwischen Katholizismus und Protestantismus, und der Gegensatz Astronomie und Astrologie angesprochen, um dann mit der "Vermessung des Himmels" auf die Beiträge Mayers zur Theorie des Mondes, seine Mondkarte und seinen Mondglobus einzugehen. Die daraus resultierenden Publikationen Mayers haben wesentlich zur Berufung auf eine Professur an der Universität Göttingen beigetragen, wie Knubben erläutert. Die neu gegründete Universität, die Konstellationen des Fächerkanons, der Fächerhierarchie und die entscheidenden Personen sind die Themen, die Knubben darlegt und dabei einen spannenden Einblick in die Verhältnisse an einer Wissenschaftseinrichtung im 18. Jahrhundert gibt. Forschung und Lehre, die Situation der Studierenden, Akademien und wissenschaftliche Gesellschaften bilden den Rahmen für die weitere Lebensgestaltung von Tobias Mayer ab 1751, die er nun zusammen mit seiner gerade angetrauten Frau zu bewältigen hat. Die wissenschaftliche Arbeit vollzieht sich vorwiegend durch einen intensiven Briefwechsel und später - nach der Fertigstellung der Göttinger Sternwarte - durch astronomische Beobachtungen. Auf die Berufungsangebote aus Berlin und St. Petersburg, bei denen Leonhard Euler beteiligt ist, geht Knubben ausführlich ein und macht dabei sichtbar, welche Wertschätzung Tobias Mayer in der Naturwissenschaft inzwischen genießt.
Höhepunkt des Lebens von Mayer ist die letztendlich erfolgreiche Bewerbung um den Längenpreis des britischen Parlaments. Knubben stellt Mayers astronomisches Verfahren im Kontext mit dem Uhrenverfahren des Konkurrenten Harrison gut nachvollziehbar dar. Er gibt schließlich einen Überblick zu den Arbeitsphasen Mayers und eine Einschätzung der Ergebnisse und weist auf die Publikationen von Mayers Schriften durch Lichtenberg und (viel später) durch Forbes hin.
Das Buch von Thomas Knubben ist nach Einschätzung des Rezensenten eine hervorragende und notwendige Ergänzung zu der bereits über 40 Jahre alten Biographie von E. G. Forbes und stellt den Wissenschaftler und den Menschen Tobias Mayer in seinem sozialen Umfeld in interessanter und gut verstehbaren Weise dar. Ein ausführliches Literaturverzeichnis ist dem Buch beigefügt.
Erhard Anthes