Hans-Werner Goetz: Die Chronik Reginos von Prüm. Geschichtsschreibung, Geschichtsbild, und Umgang mit Zeit und Vergangenheit im frühen Mittelalter (= Libelli Rhenani; Bd. 82), Köln: Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln 2022, 224 S., 24 Farb-Abb., ISBN 978-3-939160-92-2, EUR 20,00
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Die im Jahr 908 fertiggestellte Chronik des ehemaligen Prümer Abtes Regino († 915), der seit 899 in Trier lebte, ist eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte der späten Karolingerzeit. Tatsächlich können nur wenige andere zeitgenössische Texte mit einer solchen Fülle an Informationen und Hintergrundwissen aufwarten. Kein Wunder, dass dieses Werk schon im Mittelalter relativ weit verbreitet war, und noch weniger verwundert, dass sich moderne Historiker schon oft und eindringlich mit ihm beschäftigt haben. [1] Allerdings steht im Mittelpunkt des Interesses stets Reginos Darstellung der jüngeren Vergangenheit, sei es weil man daraus etwas über die politischen Ereignisse dieser Zeit erfahren möchte, sei es weil man seine Einschätzungen und Urteile über seine Zeitgenossen kennenlernen will. Höchst selten jedoch wird die Chronik, die ja nicht nur von den Karolingern handelt, sondern mit Christi Geburt einsetzt, als Ganzes in den Blick genommen, und insofern betritt die gründliche Studie, die Hans-Werner Goetz hier vorlegt, tatsächlich Neuland.
Sie klopft den Text unter ganz verschiedenen Aspekten ab, weshalb am Ende nicht ein großes Gesamtergebnis steht, sondern eine Reihe von Einzelbeobachtungen. Der erste Abschnitt (19-33) fragt nach Reginos Arbeitsweise. Hier erweist sich der Geschichtsschreiber als wenig originell, indem er seinen Text zum größeren Teil aus älteren, leicht zugänglichen Geschichtswerken kompiliert hat. Sein Ziel war es nach eigenem Bekunden, "erinnerungswürdige Taten" seiner eigenen Zeit der Nachwelt zu überliefern und damit vor dem Vergessen zu retten - dass es so etwas schon gab, dass auch für das 9. Jahrhundert mit den Annales Bertiniani und den Annales Fuldenses bereits ausführliche Darstellungen vorlagen, war ihm offenbar nicht bekannt (30 f.).
"Welche Geschichte schreibt Regino?" lautet die Überschrift des zweiten Abschnitts (35-68). Die Antwort fällt nicht leicht, denn das Werk entzieht sich einer eindeutigen Gattungszuordnung; es ist eine Weltgeschichte ebensowenig wie eine Geschichte des Frankenvolks oder der Karolinger. Am ehesten lässt es sich als "eine Geschichte der christlichen Zeiten" (59) charakterisieren, konzipiert als Gegenstück zu den heidnischen Geschichtswerken der Antike. Entsprechend großen Raum nehmen darin kirchengeschichtliche Themen ein, und ein besonderes Fable hat Regino für Märtyrer (60-65). Dazu passt, wie Goetz im dritten Kapitel (69-95) ausführt, dass ihm die Frömmigkeit der Herrscher oder überhaupt ihr moralisches Verhalten wichtiger erscheint als ihr politischer Erfolg. Wenig profiliert erscheint dagegen Reginos Vergangenheitsbild (97-110). Er betrachtet sich zwar als Gegenwartschronisten, doch ist nicht klar, was er eigentlich unter "Gegenwart" versteht: "Unsere Zeit" kann bei ihm recht verschiedene Dinge meinen, und gelegentlich reicht die damit bezeichnete Epoche bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung zurück.
Am ergiebigsten ist nach Meinung des Rezensenten das Kapitel über "Reginos Umgang mit der Zeit". (111-154) Schon oft wurde festgestellt, dass Regino der erste Geschichtsschreiber ist, der zur Gliederung seines Stoffs konsequent die Jahre seit Christi Geburt zählt. Noch nicht recht bedacht wurden jedoch die praktischen Schwierigkeiten, die sich bei dieser Pionierarbeit ergaben (mit ihnen hatten übrigens auch noch spätere Chronisten wie Hermann der Lahme und Frutolf von Michelsberg zu kämpfen). Aus den römischen Kaisertabellen konnte man zwar deren Regierungsjahre entnehmen, doch waren diese Tabellen fehlerhaft und unpräzise, so dass die Diskrepanz zwischen den errechneten und den tatsächlichen Jahren bis zum 8. Jahrhundert - für das Regino dann Annalen mit eindeutigen Datierungen nach Inkarnationsjahren zur Verfügung standen - auf mehr als 60 Jahre anwuchs. Dasselbe Problem ergab sich bei den Päpsten, und so musste Regino sich eingestehen, dass sein Bemühen um eine korrekte Chronologie vergeblich blieb; er war "mit seinem Zahlenlatein am Ende". (136) Ein eigener Abschnitt dieses Kapitels ("Visualisierung der Zeit", 137-154) betrachtet das Layout der Chronik-Handschriften. Gemeinsamkeiten über die verschiedenen Überlieferungsklassen hinweg zeigen, dass schon Regino selbst seinen Text durch Rubriken (für die Jahresangaben) und Initialen (für Herrscher- und Papstnamen) übersichtlich strukturiert hat - wer karolingerzeitliche Chronikhandschriften kennt, weiß, dass das keineswegs selbstverständlich ist.
Dem Fazit des Autors, Regino sei "der eigenwilligste und markanteste Chronist seiner Epoche" (155), wird man nach der Lektüre gerne zustimmen. Allerdings müsste man dieses Urteil erst noch durch einen vertieften Vergleich mit anderen zeitgenössischen Chronisten absichern, nicht nur mit prominenten Namen wie Frechulf von Lisieux oder Ado von Vienne, sondern auch mit anonymen kleineren Geschichtswerken aus der Karolingerzeit. Die von Goetz betonte Individualität Reginos, der mehr als andere Chronisten an seiner Gegenwart litt und die Vergangenheit verklärte, würde dann aller Voraussicht nach noch deutlicher werden. Freilich wäre dafür ein wesentlich dickeres Buch erforderlich.
Anmerkung:
[1] Siehe das Handschriftenverzeichnis und die laufend aktualisierte Bibliographie unter https://geschichtsquellen.de/werk/4124.
Roman Deutinger