Walter Benn Michaels: Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren (= Critica Diabolis; 297), Berlin: Edition Tiamat / Verlag Klaus Bittermann 2021, 296 S., ISBN 978-3-89320-279-9, EUR 24,00
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Das Schlagwort der Diversität ist seit einiger Zeit in aller Munde. Unternehmen diversifizieren sich genauso wie Universitäten. Viele akademische Einrichtungen haben mittlerweile eine/n Diversitätsbeauftragte/n. Was bedeutet diese Entwicklung? Kommt darin eine höhere Sensibilität gegenüber vielfältigen Diskriminierungserfahrungen zum Ausdruck? Lassen sich auch problematische Seiten daran benennen? Dieser Frage geht Walter Benn Michaels nach, dessen ursprünglich 2006 auf Englisch erschienenes Buch jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt.
Der Autor lehrte Literaturwissenschaft an der Universität von Illinois in Chicago. Sein Buch ist ein Einspruch gegen die Identitätspolitik, gegen den Diskurs, der Diversität feiert. Das omnipräsente Gerede über ethnische Differenzen, über race blende die eigentliche Ungleichheit aus: die Klassenunterschiede.
Das Streben nach Diversität stelle folglich keinen Widerspruch zur herrschenden kapitalistischen Produktionsweise dar. Vielmehr ermögliche sie etwa Unternehmen oder Institutionen, eine Gleichheit zu postulieren, ohne einschneidende Veränderungen vorzunehmen. Sie schaffe gewissermaßen eine Gleichheit ohne Gleichheit und füge sich gut in die neoliberale Ideologie ein. Diesen Gedanken dekliniert der Autor in sechs Kapiteln durch.
Welche starken Abwehrreaktionen eine derartige Position hervorruft, schildert er im Vorwort. Auf eine Einladung von deutschen Akademikern folgte gleich wieder die Ausladung, nachdem ein Professor interveniert hatte, der die englische Originalausgabe gelesen hatte. Er fühle sich durch den Autor einer Art von Gewalt ausgesetzt und sich deshalb nicht sicher. Ein derartiger Vorfall zeigt, wie verfahren die Debatte ist. An Michaels Position lässt sich zweifellos viel kritisieren, aber sie von vorneherein für indiskutabel zu erklären, ist nicht hilfreich.
Das erste Kapitel legt dar, wie das Engagement für Diversität aus dem Kampf gegen Rassismus hervorgegangen ist. Der Begriff der Diversität habe sich unlösbar mit dem Begriff der "Rasse" verbunden. Dieser Fokus auf Vielfalt in der Linken, gegen die niemand etwas einzuwenden habe, verliere die ökonomische Ungleichheit aus den Augen. Die klassische Arbeiterbewegung habe gerade nicht für die Anerkennung ihrer Differenz oder ihre kulturelle Identität, sondern für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit gekämpft. Sie gründe gerade darauf, dass sie nicht nach Hautfarbe oder Geschlecht unterscheide.
Ferner lasse sich der in Amerika allgegenwärtige Begriff der "Rasse" wissenschaftlich nicht halten. Durch den ständigen Verweis darauf werde ein unhaltbares Konzept perpetuiert. Warum das geschieht, behandelt Michaels im folgenden Kapitel.
Er betont die rassistische (und antisemitische) Geschichte Amerikas und die Bedeutung der antirassistischen Kämpfe der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Allerdings habe sich der Charakter des Antirassismus gewandelt. Es gehe heute nicht mehr darum, die Differenzen zwischen den ethnischen Gruppen aufzuheben. Vielmehr würden die Unterschiede zelebriert und als schützenswert wahrgenommen. Dieses Ziel teilten alle politischen Lager: "Die ökonomische Ungleichheit bleibt in jedem Fall vollkommen unangetastet. Der Traum einer vorurteilsfreien Welt, einer Welt, in der Identitäten [...] nicht diskriminiert werden, hegen die Rechten ebenso wie die Linken. Und er ist ganz kompatibel mit dem Traum freier und effizienter Märkte, ja dafür sogar unabdingbar." (102)
Diese Problematik am Beispiel der Universitäten diskutiert Michaels im folgenden Kapitel. Seine eigene Universität in Chicago sei eine der ethnisch diversesten im ganzen Land. Doch andererseits seien Universitäten, vor allem die Ivy League Einrichtungen, äußerst homogen. Sie seien "Kaufhäuser für Reiche" (107). Ferner nähre die Ausblendung der sozialen Ungleichheit die Illusion, dass Reichtum und Vorankommen auf Leistung zurückzuführen seien. Jeder könne alles schaffen, wenn er sich nur genug anstrenge. Diese meritokratische Illusion sei ein Fundament der amerikanischen Gesellschaft und zugleich eine (Selbst-)Lüge.
Der Einsatz für Diversität an Universitäten war zunächst ein Projekt der politischen Linken. Mittlerweile sei ihre Politik zu einem "Benimmkodex" (119) verkommen, in dem es primär um die richtige Art zu reden gehe, damit sich niemand beleidigt fühle. Dieses Engagement sei "nicht auf eine Gesellschaft aus, in der es keine Armen mehr gibt, sondern auf eine, in der es in Ordnung ist, arm zu sein; eine, in der arme Leute - ebenso wie Schwarze, Juden und Asiaten - respektiert werden." (138) Auf einer oberflächlichen Ebene soll Gleichheit hergestellt werden, ohne den Reichtum gesellschaftlich umzuverteilen.
Die Bedeutung dieser Entwicklung für den Umgang mit der rassistischen Vergangenheit schildert das nächste Kapitel. Die ständigen Entschuldigungen hält Michaels weitgehend für banal, vor allem von Unternehmen, die etwa wegen ihrer Geschichte um Verzeihung bitten und sich als Konsequenz daraus der Diversität verpflichten. Dieses Argument begründet er folgendermaßen: "Entschuldigungen sind deshalb belanglos, weil Dinge, die Menschen nicht getan haben, ihnen nicht allzu leid tun können; hingegen ist eine Entschädigung von Belang, weil Menschen Geld zurück geben können, das sie nicht hätten besitzen dürfen." (157) Die herrschende Tendenz biete Unternehmen folglich die Möglichkeit, sich leicht aus der Affäre zu ziehen. Am Martin Luther King's Day die afroamerikanische Vergangenheit zu zelebrieren oder am Pride's Day die Regenbogenfahne zu hissen, sei schließlich umsonst.
Welche extremen Entwicklungen der Bezug auf Diversität annehmen kann, erläutert der Autor im folgenden Kapitel. Jede kulturelle Besonderheit gelte als Widerstandshandlung gegen den sich globalisierenden Kapitalismus. Dabei spiele es keine Rolle, welche emanzipatorischen Inhalte damit transportiert würden. Die Identität werde als Wert an sich gepriesen. So lehnten einige Aktivisten die Nutzung von Hörgeräten ab, da dadurch die Kultur der Gehörlosen verlorengehe. Sie müsse bewahrt werden: "Man redet uns ein, das Problem sei das 'Stigma' der Behinderung, nicht die Behinderung selbst. Und die Lösung besteht darin, sie zu feiern und nicht zu stigmatisieren." (203)
Im abschließenden Kapitel behandelt Michaels die Debatte über Religion in Amerika, die ebenfalls dazu diene, von der eigentlich wichtigen Thematik, der Ungleichheit, abzulenken.
In den Schlussbemerkungen beschreibt sich der Autor als jüdischen Universitätsprofessor mit einem Jahresgehalt von 175 000 Dollar, also zur privilegierten Klasse gehörig. Sein kulturelles oder ethnisches Erbe spiele für ihn keine Rolle. Ohnehin seien diese Aspekte nicht relevant dafür, ob er mit seinen Positionen richtig liege, ebenso wenig wie andere individuelle Präferenzen: "Wir sollten uns nicht auf die Illusionen kultureller, sondern auf die Realität ökonomischer Unterschiede konzentrieren. Das ist das Herzstück fortschrittlicher Politik." (239)
Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits stellt es einen engagierten Einspruch gegen den vorherrschenden Diskurs um Diversität dar. Andererseits basiert seine Argumentation auf einem zentralen Argument, das in unterschiedlichen Varianten die Publikation durchzieht: eigentlich sollte es um soziale Ungleichheit gehen, die durch den Fokus auf die anderen Aspekte ausgeblendet wird. Eine derartige Kritik ist nicht neu. Die vielen Beispiele aus der amerikanischen Literatur und den dortigen Debatten machen das Buch für eine deutsche Leserschaft nicht zugänglicher. Außerdem ist fraglich, ob das Reden über Identitätspolitik und die Thematisierung sozialer Ungleichheit sich unvereinbar entgegenstehen. Eine Kritik an der Diversitätspolitik ist zweifellos berechtigt, aber dafür gibt es bessere Bücher.
Sebastian Voigt