Rezension über:

Ingrid Pfeiffer (Hg.): Lyonel Feininger. Retrospektive, München: Hirmer 2023, 272 S., 230 Farb-Abb., ISBN 978-3-7774-4177-1, EUR 49,90
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Rezension von:
Dennis Jelonnek
Deutsches Forum für Kunstgeschichte, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Dennis Jelonnek: Rezension von: Ingrid Pfeiffer (Hg.): Lyonel Feininger. Retrospektive, München: Hirmer 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/38942.html


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Ingrid Pfeiffer (Hg.): Lyonel Feininger

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Vom matten Festeinband des rezenten Kataloges "Lyonel Feininger - Retrospektive" blickt uns der Künstler in einem Selbstporträt aus dem Jahr 1915 entgegen. Dieser Blick fixiert uns als Betrachter*innen und erlaubt verschiedene Deutungen; nicht zuletzt, weil sich die charakteristische Malweise ein gutes Stück von einer naturalistischen Wiedergabe entfernt hat, ohne dabei die Gegenständlichkeit aufzugeben. Figur und Hintergrund sind gleichermaßen in facettenartige Flächen aufgelöst, deren in sich changierende Farbigkeit zur Expressivität der Darstellung beiträgt. Auf den ersten Blick scheint in der so verfremdeten Mimik Feiningers etwas unwillig Lauerndes zu liegen, vielleicht sogar ein wenig Ablehnung. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Gemäldes dürfte dieses sein Publikum also auf doppelte Weise gereizt haben: aufgrund der avantgardistischen Auffassung von Malerei und der Gattung des Porträts, aber auch aufgrund der direkten Adressierung durch die stechend grünen Augen des Porträtierten.

Die Auswahl dieses Gemäldes für den Titel des Katalogs ließe sich auch mit der auffälligen Körperhaltung Feiningers begründen: Über seine rechte Schulter schauend blickt er zurück auf uns; eine Retro-Spektive im Wortsinne, an der sich auch die Autor*innen des Bandes auf den folgenden gut 270 Seiten gewissermaßen in Gegenrichtung versuchen. Sie werfen einen breitgefächerten Blick zurück auf dessen vielgestaltiges Werk, das in zahlreichen Abbildungen zur Ansicht kommt, deren Anordnung zuweilen etwas willkürlich wirkt. Die Verlagsankündigung verspricht, dass der Katalog zur ersten Retrospektive im deutschsprachigen Raum seit 1998 mit "rund 140 Gemälden, Zeichnungen, Karikaturen, Aquarellen, Holzschnitten, Fotografien und Objekten aus allen Schaffensphasen [...] ein Gesamtbild von Feiningers Werk [zeichnet], das auf seine Aktualität hin befragt wird. [...] Eine besondere Würdigung erfahren zudem sein malerisches Frühwerk wie neueste Forschungen zur Bedeutung der Fotografie im Schaffen des Bauhaus-Meisters." [1] Dieses Gesamtbild, darauf wird der Anspruch von Ausstellung und Katalog zugespitzt, sei bislang noch kaum zur Darstellung gekommen, obwohl Feiningers Arbeiten in Einzelstudien bereits gut erforscht seien. [2] Vorab sei bereits verraten, dass das hier formulierte Vorhaben ambitioniert erscheint, in wichtigen Punkten im Katalog aber eine gelungene Umsetzung findet.

Der Aufsatz von Ingrid Pfeiffer zu Beginn hat einführenden Charakter und macht konsequenterweise das auf dem Titel abgedruckte Selbstporträt Feiningers zum Ausgangspunkt ihrer Ausführungen. Im Text macht sich die Kuratorin und Herausgeberin das zunutze, was sie dem Künstler Feininger zugleich attestiert: ein Moment der Bewegung (23, 26), das nicht nur in dessen abstrakten Gemälden zu verzeichnen ist, sondern das auch die kaleidoskopische, wenn auch insgesamt chronologische Darstellung prägt, die uns vom Leben und der künstlerischen Entwicklung Feiningers präsentiert wird. Hier wird klar, dass 'Entwicklung' in Feiningers Fall allerdings nicht als teleologische, sondern als eine munter suchende und tastende Bewegung in verschiedene Richtungen zu verstehen ist, die ihm sein medial und motivisch vielfältiges Werk überhaupt erst zu schaffen ermöglichte.

Ein hierarchieloses Tableau von Zeichnungen, Grafiken, Gemälden und Fotografien aber auch Comics, Karikaturen und Spielzeugen zu präsentieren, prägt nicht nur die Anordnung der Abbildungen des Kataloges, es ist in den folgenden Aufsätzen auch das offensichtliche Ziel der beteiligten Autor*innen. Entsprechend widmen sich zwei Aufsätze von Ute Ackermann und Barbara Leven der Malerei und fokussieren auf einen jeweils bedeutsamen lokalen Bezug, eine jeweils über Jahre geleistete Arbeit an motivischen Serien: Da werden einerseits Feiningers bekannte Gemälde der Kirche von Gelmeroda bei Weimar in den Blick genommen, andererseits Stadtansichten von Halle an der Saale. Der Aufsatz von Sebastian Ehlert beschäftigt sich mit den Arbeiten des Künstlers in den Bereichen Zeichnung und Karikatur, Franziska Lampe ordnet Feiningers lange unterschätzte Beschäftigung mit der fotografischen Kamera ein und Achim Moeller untersucht Feiningers Bezüge zur Musik. Für den spezifischen Fall dieses dezidiert internationalen Künstlers ist die Thematisierung des bewegten Lebens der Feininger-Familie vor allem zwischen den USA und Deutschland zu begrüßen, den Gloria Köpnick beisteuert. Anna Hubers ausführliche Biografie Lyonel Feiningers und seines unmittelbaren Umfeldes bildet den Abschluss und erlaubt zuletzt einige Details zu dessen Werdegang zu ergänzen.

Das Ausstellungsformat der Retrospektive birgt bekanntlich Tücken. Eine davon liegt in ihrem eigenen Anspruch begründet, einen weiten, aber zugleich prägnanten Überblick über ein Œuvre zu vermitteln, wodurch häufig die besonders erkenntnisbringende Arbeit am einzelnen Werk, an der einzelnen Werkgruppe vernachlässigt wird. Die Chance und Herausforderung, mit dem Katalog dieser Problematik konstruktiv entgegenzuwirken, wurde bei der Arbeit am vorliegenden Band offenbar klar erkannt. So steht Lyonel Feininger und sein Lebenswerk unzweifelhaft im Zentrum der Aufmerksamkeit aller Autor*innen, doch erlauben es die ebenso kenntnisreich wie kurzweilig verfassten Einzelbeiträge einerseits spezifische, scharf umrissene Bereiche seiner Arbeit herauszuarbeiten und andererseits eine gemeinsame Botschaft zu seinem Werk zu vermitteln. Denn übergreifend wird deutlich - und diese Darstellung erscheint als die bedeutende Leistung des Bandes - wie offen Feininger sich als Künstler gegenüber Motiven und Medien zeigte, die ihm begegneten, und wie er diesen Begegnungen dann stringente formale und inhaltliche Lösungen abrang, indem er das Material konsequent umzuformen und in seine eigene künstlerische Weltsicht einzugliedern verstand.

Der insgesamt ausgewogene Eindruck des Bandes ist zu einem guten Teil der Zusammensetzung seiner Autor*innen zu verdanken, die leider an keiner Stelle näher vorgestellt werden. Es kommen sowohl Expert*innen zu Wort, die sich in den vergangenen Jahrzehnten um die Erforschung von Feiningers Werk und Biografie verdient gemacht haben, als auch jüngere Forscher*innen, die mitunter erst vor Kurzem mit Arbeiten zu Feininger promoviert wurden. Dies erscheint begrüßenswert, da so weder die etablierte Forschungslage zum Thema übergangen, noch auf diese allein gesetzt wird. Im Katalog der letzten Retrospektive im deutschsprachigen Raum, der sich für einen Vergleich geradezu aufdrängt, blieb etwa die nun von Franziska Lampe thematisierte Rolle der Fotografie in Feiningers Schaffensprozess noch unbeachtet. [3]

Insgesamt zeigt sich beim Abgleich mit diesem früheren, noch umfänglicheren Katalog der Neuen Nationalgalerie Berlin und des Münchner Hauses der Kunst von 1998, dass man sich damals tendenziell eher den kunsthistorischen Traditionen und Rückbezügen widmete, während sich der aktuelle Frankfurter Katalog - wie angekündigt - dezidiert mit der Frage der Aktualität Feiningers für unsere Zeit beschäftigt. Dass dessen Antrieb sich einerseits aus einem ambivalenten Interesse an seiner Umwelt speiste und dass deren künstlerische Umwandlung in Arbeiten keineswegs bruchlos vor sich ging oder in formalistischer Einheitlichkeit mündete, macht einerseits Feininger zu einem bis heute interessanten Künstler und andererseits den Katalog zu einer lohnenswerten Lektüre - sei es zum Stöbern im Bildteil, sei es zur intensiven Vertiefung in die Ausführungen zu dessen Leben und Werk.


Anmerkungen:

[1] So die Ankündigung des Ausstellungskataloges auf der Website des Hirmer-Verlages: https://www.hirmerverlag.de/de/titel-1-1/lyonel_feininger-2471/ (Stand: 06. März 2024).

[2] Vgl. Sebastian Baden: Vorwort, in: Lyonel Feininger - Retrospektive, hg. von Ingrid Pfeiffer (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, 27. Oktober 2023 - 18. Februar 2024), München 2023, 9.

[3] Vgl. Roland März (Hg.): Lyonel Feininger. Von Gelmeroda nach New York, (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie Berlin, 3. Juli 1998 - 11. Oktober 1998, und im Haus der Kunst München, 1. November 1998 - 24. Januar 1999), Berlin 1998.

Dennis Jelonnek