Rezension über:

Julia Burkhardt / Christina Lutter: Ich, Helene Kottannerin. Die Kammerfrau, die Ungarns Krone stahl, Darmstadt: wbg Theiss 2023, 192 S., ISBN 978-3-8062-4567-7, EUR 22,00
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Rezension von:
Albrecht Classen
German Studies, University of Arizona, Tucson, AZ
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Albrecht Classen: Rezension von: Julia Burkhardt / Christina Lutter: Ich, Helene Kottannerin. Die Kammerfrau, die Ungarns Krone stahl, Darmstadt: wbg Theiss 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/39116.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Julia Burkhardt / Christina Lutter: Ich, Helene Kottannerin

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Schon lange kennt die Forschung die Memoiren der deutsch-ungarischen Kammerfrau Helene Kottannerin aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die dafür berühmt geworden ist, dass sie für die luxemburgisch-ungarische Königin Elisabeth die sogenannte Stephanskrone von der Plintenburg (nördlich von Budapest) heimlich entwendete und zu ihrer Herrin brachte, praktisch zur gleichen Stunde, als deren Sohn, der zukünftige Thronerbe Ladislaus Postumus, geboren wurde (er starb bereits 1457). Sie, die einzige Tochter von Kaiser Sigismund (gest. 1437), war mit dem österreichischen Herzog Albrecht V. (1397-1439) verheiratet, der als Albrecht II. nur sehr kurzzeitig das Amt des römisch-deutschen Königs und des ungarischen Königs innehatte, starb er ja schon 1439 an der Ruhr. Mittels der Krone hatte Elisabeth die entscheidende Herrschaftsinsignie in ihrer Hand, was ihre Position als Mutter des männlichen Thronfolgers in Ungarn erheblich stärkte, auch wenn im Laufe der Zeit die ungarischen Magnate sich gegen sie durchsetzen und den polnischen König Ladislaus III. (1424-1444) wählen konnten. Schon 1440 musste aber Elisabeth sowohl die Krone als auch die Vormundschaft über ihren Sohn dem römisch-deutschen König Friedrich III. (1415-1493) überlassen und starb selbst schon zwei Jahre später.

Julia Burkhardt und Christina Lutter greifen hier auf den berühmten Bericht der Kottannerin zurück, den sie erneut ins moderne Deutsch übersetzen und dann gründlich auf die enthaltenen Informationen abklopfen. Sie sind keineswegs die Ersten, die diese Quelle ausgiebig untersuchen, es gelingt ihnen aber, tiefer als bisher in die komplizierten politischen Verhältnisse in Ungarn und den benachbarten Ländern einzudringen und sie relativ klar darzustellen. Allerdings hätte man sich auch eine chronologische Skizze gewünscht, um beim Aufspüren spezifischer Informationen nicht so häufig hin- und herblättern zu müssen. Die Autorinnen verkomplizieren ihre Darstellung noch dadurch, dass sie die verschiedenen historischen Quellen zur Sprache kommen lassen, wodurch die kontroversen Sichtweisen - zum Beispiel, polnisch versus habsburgisch - hervortreten. Manche Leser könnten angesichts der Meinungsvielfalt hinsichtlich der politischen Lage verunsichert sein, was hinsichtlich der schnell wechselnden Machtverhältnisse nicht verwundern würde.

Das Buch nimmt aber den Bericht der Kottannerin nur als Anlass oder Ausgangsbasis, um eine Fülle von historischen Aspekten anzusprechen: die politischen und sozialen Hintergründe, die symbolische Bedeutung der Krone, die Personen im Umfeld der Königsfamilie, biografische Angaben zur Kottannerin und ihrer Familie, die zentralen Burgen und Städte, an denen die Handlung spielt, den religiösen Rahmen, die Lebensverhältnisse auf der Reise, das Leben am Hof, die Beachtung des Kindes und die Rolle der Autorin. Sicherlich wollte sie mit dem Bericht ihre eigene, wichtige Funktion in all dem Geschehen hervorkehren, um Vorteile für sich und ihre Familie zu gewinnen, was dann auch der Fall war. Zugleich gilt aber auch, dass sie sich dabei als eine sehr selbstbewusste, mutige, zugleich stark religiöse Person erwies, die durchaus ähnlich wie ihre Zeitgenossin Margery Kempe (circa 1373 - nach 1438) mit ihrem sogenannten Book of Margery Kempe Interesse am Abfassen einer Autobiografie zeigte.

Die politischen Verhältnisse in Ungarn entwickelten sich im Laufe des 15. Jahrhunderts recht kompliziert, was hier leider nicht mehr angeschnitten wird, sodass die Karriere von Ladislaus Postumus bis 1457, unterbrochen durch die Herrschaft von Ladislaus III. von 1440 bis 1444 und dann dem Reichsverweser Johannes Hunyadi (1446-1453), weitgehend unberücksichtigt bleibt. Umso produktiver sind ihre Bemühungen, einmal anhand der Memoiren der Kottannerin und dann anhand zeitgenössischer Quellen einen tieferen Einblick in die Alltagswelt am Hof jener Zeit zu gewinnen. Zweierlei Aspekte gelangen hierbei insbesondere in den Blick: das Reisekönigtum und die komplizierten Herrschaftsbedingungen in Ungarn und den angrenzenden Ländern, wo die Magnaten erheblichen Einfluss ausüben und relativ selbstbestimmt herrschen konnten. Helenes Bericht informiert zugleich intensiv über die materiellen Bedingungen, so z.B. die Hofkleidung, das Personal um die Königin, die Reiseverhältnisse und die Pflege des Königssohns.

Der gut bebilderte Band (leider nur in Schwarz-Weiß) schließt mit einer umfangreichen Bibliografie, die auch die internationale Forschung vor allem Mittel- und Osteuropas einschließt und nach Großthemen gegliedert ist (was viel Blättern verlangt), einer Ortsnamenkonkordanz, einem Register der geografischen Bezeichnungen, einem Personenregister und einem Abbildungsverzeichnis. Die zwei Autorinnen verdienen unsere Anerkennung dafür, die Memoiren der Kottannerin erneut aufbereitet und sie als wertvolle historische Quelle ausgewertet zu haben.

Albrecht Classen