Nicolas Badalassi / Frédéric Gloriant (eds.): France, Germany, and Nuclear Deterrence. Quarrels and Convergences during the Cold War and Beyond, New York / Oxford: Berghahn Books 2022, XI + 351 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-1-80073-325-1, GBP 107,00
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Nicolas Badalassi / Jean-Philippe Dumas / Frédéric Bozo et. al. (eds.): Reconstructing Europe 45 years after Yalta. The Charter of Paris (1990), Paris: CTHS 2021
Nicolas Badalassi / Sarah Snyder (eds.): The CSCE and the End of the Cold War. Diplomacy, Societies and Human Rights, 1972-1990, New York / Oxford: Berghahn Books 2019
Aktuell wird die Idee einer atomaren Bewaffnung Europas, vulgo der Europäischen Union (EU), ja, horribile dictu, sogar der Bundesrepublik Deutschland diskutiert. Angefacht haben diese Diskussion der Ukrainekrieg und die möglichen Bedrohungen von NATO-Staaten durch Russland, aber auch die Äußerungen des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, die sich in die Kontinuität früherer Bemerkungen noch aus seiner Zeit als US-Präsident zwischen 2017 und 2021 einreihen und erneut die amerikanische Bündnisverpflichtung in Frage stellen.
Den meisten erscheint das als ein Hirngespinst, und folglich halten sie die Diskussion für eine Phantomdebatte. Nur wenige wissen, dass diese Idee mitnichten neu ist. Vielmehr handelt es sich um das Déjà-vu einer Debatte, die es fast seit Beginn der North Atlantic Treaty Organization (NATO), auf jeden Fall aber seit den späten 1950er und vor allem in den 1960er Jahren gegeben hat, wie auch der hier zu besprechende Sammelband zeigt. Die zwölf sehr gut dokumentierten Aufsätze deutscher, französischer, italienischer und finnischer Spezialisten, die aus einer Tagung an der Universität Lorient im Jahr 2016 hervorgegangen sind, decken zumindest schlaglichtartig die Entwicklung des Themenfeldes aus einer deutsch-französischen Perspektive von den 1950er Jahren bis zum Ende des Kalten Krieges ab und sie wollen mit zwei gängigen Interpretationen aufräumen, wie die beiden Herausgeber in ihrer Einführung erklären: zum einen mit der einer in den 1950er und 1960er virulenten und besorgniserregenden nuklearen westdeutschen Ambition; zum anderen mit jener der französischen Force de frappe als Ausdruck französischer Hegemonialpolitik auch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland. Dem könnte man noch ein weiteres sehr verbreitetes Vorurteil hinzufügen - das eines immer schon bestehenden unüberwindbaren deutsch-französischen Gegensatzes in der Nuklearfrage: hier eine tiefe Skepsis gegenüber dem Atomaren, dort eine große Aufgeschlossenheit selbst gegenüber einer militärischen Nutzung dieser Energiequelle.
Tatsächlich stand das Thema Atomwaffen zumindest in den 1950er und 1960er Jahren sehr wohl auch auf der Agenda der westdeutschen Außen- und Sicherheitspolitik - wie die Beiträge in den ersten beiden Teilen des Sammelbandes zeigen, zumal vor allem Bundeskanzler Konrad Adenauer immer betont hatte, dass der entsprechende Verzicht in den Pariser Verträgen von 1954 rebus sic stantibus erfolgt sei und keineswegs die multilaterale Entwicklung mit anderen Verbündeten oder sogar den gemeinsamen Besitz ausschließe. Genau solche Versuche hat es dann in den ersten beiden Jahrzehnten des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland gegeben, zumal sich bereits sehr früh nach der Gründung der NATO die Frage nach der amerikanischen Bündnistreue stellte: Würden die USA die europäischen NATO-Mitglieder wirklich gegen jeden sowjetischen Angriff tatsächlich notfalls auch atomar verteidigen, selbst wenn dies bedeutete, dass eigenes Territorium durch sowjetische Atomwaffen bedroht würde? Den Anfang einschlägiger Überlegungen bildete das Projekt einer trilateralen atomaren Kooperation zwischen der Bundesrepublik, Frankreich und Italien 1957/1958 mit dem Ziel der gemeinsamen Produktion von Atomwaffen. Es scheiterte am Ende am Veto Charles de Gaulles, der die Pläne nach seiner Regierungsübernahme im Mai 1958 kassierte, weil er eine rein nationale Atomrüstung favorisierte.
So enttäuschend diese Entscheidung aus westdeutscher Perspektive anmutete, so sehr verstärkte sie nur noch die Bindungen der westdeutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik an die USA und das Interesse des geteilten Landes und potentiellen Schlachtfeldes in einem Atomkrieg an einer Mitsprache in der nuklearen Einsatzplanung. Hieraus resultierte in der Zeit der Präsidentschaft von John F. Kennedy und angesichts des nunmehr massiven Werbens de Gaulles um eine enge Partnerschaft mit der Bundesrepublik Deutschland, wobei auch wiederholt die force de frappe als Lockmittel fungierte - wie ernsthaft kann auch dieser Sammelband nicht klären -, der amerikanische Vorschlag einer seegestützten Atomflotte, der Multilateral Force (MLF), bei deren etwaigem Einsatz die Westeuropäer mitreden sollten. Hierüber kam es insbesondere in der westdeutschen Politik zu einer Spaltung von Politik und öffentlicher Meinung zwischen Atlantikern und Gaullisten: Letztere hielten das französische Angebot einer Teilhabe an der Force de frappe für glaubwürdig und hielten es auch für mit dem andauernden Bündnis mit den USA vereinbar; erstere werteten allein das amerikanische Angebot als seriös und fürchteten ein Auseinanderfallen der transatlantischen Partnerschaft.
Am Ende scheiterte das eine wie das andere Angebot - das amerikanische der MLF wegen veränderter US-Prioritäten, das französische, weil es letztlich immer recht vage blieb. Die Zukunft gehörte nur noch der nuklearen Teilhabe im engeren Sinne einer Einbindung Westdeutschlands in den nuklearen Entscheidungsprozess in der NATO, nunmehr gepaart mit der Überzeugung, dass Atomwaffen nur zur Abschreckung dienen dürften. Damit bildete sich auch erst Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre ein wirklicher deutsch-französischer Gegensatz in der Frage von Nuklearwaffen aus: Während nun alle Bundesregierungen, gestützt auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens, nur noch ein multilateral eingebettetes nukleare Mitspracherecht favorisierten, bildete sich in Frankreich ein breiter gesellschaftlicher Konsens zugunsten eines nationalen Atomwaffenbesitzes als Symbol nationaler Größe und Unabhängigkeit, aber auch als ein wertvolles Abschreckungsinstrument heraus. Allerdings verhinderte dies in den 1970er Jahren und vor allem in der Mitterrand/Kohl-Ära der 1980er Jahren nicht einen durchaus fruchtbaren westdeutsch-französischen strategischen Dialog über den etwaigen Einsatz französischer Atomwaffen, dessen Bedeutung die Beiträge im dritten Teil des Sammelbandes sehr gut herausarbeiten.
An der grundsätzlichen deutsch-französischen kulturellen Differenz in Bezug auf Atomwaffen hat sich indes bis heute nichts geändert: Mit Artikel 3 des Zwei-plus-Vier-Vertrags hat das vereinigte Deutschland 1990 seine Verpflichtung aus den Pariser Verträgen von 1954 bestätigt, während Frankreich mehr denn je an seiner Force de frappe festhält. Insofern fällt der Blick in die Kristallkugel, der teilweise in Teil 4 des Sammelbandes gewagt wird, verständlicherweise ambivalent aus: Die Tatsache, dass die Bedeutung von Atomwaffen angesichts der aktuellen Bedrohungsszenarien wieder stärker geworden zu sein scheint, damit auch die Relevanz der atomaren Präsenz Frankreichs im Verhältnis Berlin-Paris, dann die Rückkehr Frankreichs auch in die militärische Integration der NATO sowie schließlich das Faktum, dass die Bundesrepublik in EU und NATO heute weit stärker als früher zu militärischen Aktionen bereit ist, lässt gleichwohl zumindest mittel- und langfristig eine deutsch-französische Annäherung in der Frage atomarer Bewaffnung nicht gänzlich ausgeschlossen erscheinen, zumal wenn die USA tatsächlich zum Isolationismus zurückkehren und damit eine stärkere verteidigungspolitische Eigenständigkeit der Europäer geradezu erzwingen würden.
Reiner Marcowitz