Udo Kindermann (Hg.): Cur Deus homo. Ein Rollenspiel des Gregor von Montesacro (13. Jh.) (= Texte zur Forschung; Bd. 115), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2023, 198 S., ISBN 978-3-534-40660-9, EUR 54,00
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Mittelalterliche lateinische Manuskripte lesen, textkritisch bearbeiten und edieren, übersetzen und im historischen Kontext erschließen - das ist nicht jedermanns Sache; derartige Editionen für die persönliche Bibliothek zu kaufen und zu lesen, wohl noch weniger. Udo Kindermann ist Experte für mittellateinische Philologie, geboren 1941 in Breslau. Er war in diesem Bereich von 1991 bis zu seiner Emeritierung 2006 an der Universität Köln als ordentlicher Professor tätig. Sein Forschungsgebiet beschäftigt ihn weiterhin. Schon aus dem ersten Satz der Einleitung spricht die Liebe zum Stoff: "Die hier vorgelegte Dichtung ist sehr schön für den, der diese Schönheit erkennen will und erkennen kann" (7). Den Lesern und Leserinnen zu helfen, die "wollen", aber vielleicht nicht "können", ist sein Ziel.
Den Hauptteil des Buches bildet die zweisprachige Textedition (50-191) mit 362 durchnummerierten Strophen. Die lateinischen Seiten bieten Textvarianten der überlieferten Handschriften und erschließen die zahlreichen Anspielungen, überwiegend auf biblische Quellen und kirchliche Schriftsteller wie Augustinus (der leider nicht in den Index gelangt ist). Die vorausgehenden Abschnitte (bis 48) führen in den Stoff ein: Ein erster Überblick fasst Inhalt und Struktur des Textes zusammen. Als "Sitz im Leben" vermutet Kindermann eine benediktinische Professfeier, "hypothetisch rekonstruiert" (32) aus den Bezügen zur Taufe, die auf die Profess als "zweite Taufe" hindeuten könnten, sowie aus Parallelen zur Benediktsregel. Die anspruchsvolle Sprache weist sogar Affinitäten zum Griechischen auf. Den zwölf Sprechrollen sind je verschiedene Versmaße zugeordnet. Zuordnen lässt sich das Gedicht dem Benediktinerabt Gregor von Montesacro (geboren 1189-1192, gestorben 1241-1249), der aufgrund seiner Begabung nach Rom gerufen wurde und auch andere literarische Werke verfasste. Zwei Abschriften des Textes befinden sich in der Biblioteca Apostolica Vaticana in Rom.
Auch über Fachkreise hinaus erkennt man im Titel "Cur Deus homo" eine Anspielung auf das bekannte Werk des Anselm von Canterbury (gestorben 1109). Es behandelt die Notwendigkeit und den Weg der Erlösung des Menschen aus der Sünde durch den Tod Jesu Christi, oft zusammengefasst und kritisiert als "Satisfaktionstheorie": Gott habe für die Sünde den Tod seines Sohnes als unendlich kostbares Opfer verlangt. Schon der Titel des Werkes deutet auf eine andere Stoßrichtung hin. Anselm fragt nicht: Warum musste Christus für unsere Sünden sterben?, sondern: Warum wurde Gott Mensch? Die Antwort beruht auf der Einsicht: Gesühnt ist die Schuld erst dann, wenn der Mensch in seiner Würde wiederhergestellt ist und die Genugtuung selbst leisten kann. Da kein Mensch dies aus sich heraus vermag, muss Gott selbst die menschliche Natur annehmen, um sie in der ursprünglichen und zugleich überbotenen Vollkommenheit neu für den glaubenden Menschen zugänglich zu machen. Gott wird Mensch, um die Menschen aus ihrer Versklavung an die Sünde zu befreien und sie zu erneuern.
Das Gedicht des Abtes Gregor gibt Anlass, die Rezeption von Anselms Schrift im verwandten benediktinischen Milieu gut einhundert Jahre später zu überprüfen. Die dialogische Umarbeitung des Stoffes deutet bereits darauf hin, dass der Mensch in das Ringen um eine Antwort einbezogen ist. Zwar handelt es sich nicht um ein Bühnenstück mit Requisiten, Kostümen und Gesten, doch gilt: "Die Aufteilung des Inhalts auf viele Sprecher leistet einen beachtlichen Beitrag zu einer Dynamisierung des Erzählens und insbesondere zur Verlebendigung theologisch-philosophischer Argumentationen" (28). Auch Gott Vater, der Sohn, Maria und der Erzengel Gabriel werden in menschlichen Versen von menschlichen Stimmen im großen Horizont der gesamten Heilsgeschichte vergegenwärtigt. Der göttliche Wille zur Erlösung erscheint in einer literarischen Stilform, die über Abt Gregor hinaus Verwendung fand und "Streit der Töchter Gottes" (10) genannt wird: Die Barmherzigkeit (misericordia) führt mit ihren Schwestern Wahrheit (veritas), Gerechtigkeit (iustitia) und Frieden (pax) eine Auseinandersetzung, ob und wie Gott davon zu überzeugen sei, sich des gefallenen Menschen anzunehmen. Selbst wenn es sich um Sinnbilder göttlicher Wesenseigenschaften handelt, so argumentieren sie doch in menschlich nachvollziehbaren Kategorien. Die Barmherzigkeit erhält nicht willkürlich den Vorrang - sie kann gute Gründe in den Verheißungen Gottes selbst vorbringen und setzt sich aufgrund von Überzeugung durch.
Wie in der vorgeschlagenen Deutung des Anselm von Canterbury, so geht es auch bei Abt Gregor um die Rettung und Befreiung des Menschen, verbunden mit der Wiederherstellung höchster menschlicher Würde. "Ein Bruder wird ihn [den Menschen] erlösen, und doch kein Mensch" (115). Der Akzent liegt auf der Nähe des göttlichen Bruders, nicht auf der Distanz zum unerreichbaren Gott: Der Herr "hatte wirklich Umgang mit den Menschen" (119; das hier verwendete lateinische Wort "conversari" wird im II. Vatikanischen Konzil zur Erläuterung der Selbstoffenbarung Gottes in der Konstitution "Dei Verbum" verwendet). Ziel ist letztlich nicht das grausame Kreuzesopfer, sondern "dass des wahren Gottes Herrlichkeit auf dieser Erde wohnen möge" (131).
In diesem Zusammenhang ist die Rolle Marias besonders bedeutsam. Der Himmelsbeherrscher ist "mit ihr in allem" (142); als Mensch zeigt sich an ihr die höchste Würde des Geschöpfs: "Die Du die Allwiederherstellerin [reparatrix omnium] bist, ein edles Wohngemach für Gott und Mensch" (144f.). An den Menschen appelliert der Aufruf, dem Erlöser "streitbar" (militans: 188) zu folgen und im eigenen Leben einzulösen, was Gottes Sohn als Heil für uns in menschlicher Gestalt errungen hat.
In der Verfremdung mittelalterlicher Sprache richtet sich der Text kühn an "alle" (cuncte gentes: 188f.; vgl. 25). Nicht nur dem Autor Kindermann, sondern dem lateinischen Rollenspiel selbst gelingt der Transfer in die Gegenwart. Die Übersetzung vermag selbstverständlich das lateinische Versmaß nicht nachzuahmen, dient aber in guter Mischung von Textnähe und Sinnwiedergabe der Lesbarkeit. Einige Übersetzungsschwächen deuten darauf hin, dass der Autor mit theologischen Gedankengängen weniger vertraut ist: "participium" ist kein "Partizip", sondern unterscheidet die Sohnschaft aufgrund göttlicher Natur von der geschöpflichen Kindschaft aufgrund von Teilhabe (Partizipation; 52-55). Das Wort Gottes nahm, theologisch formuliert, nicht eine andere "Gestalt", sondern eine andere "Natur" an (146f.). Jesu Opfer fand nicht "in der Osterzeit" (170f.), sondern "um das Paschafest" statt.
In seiner Begeisterung mutet der Autor Kindermann den Lesern und Leserinnen eine Reihe von Fachtermini zu (etwa der "extradiegetische Erzähler": 11; das Bibel-Cento: 35; der "proparoxytonische Versschluss": 38), die der Erläuterung bedurft hätten. Doch der Band verdient für alle theologie- und geistesgeschichtlich Interessierten tatsächlich einen Platz in der eigenen Bibliothek. Und er verdiente eine interdisziplinäre Würdigung, etwa im Austausch mit der Liturgiegeschichte (Verhältnis zu den Osterspielen und anderen liturgischen Spielen?) und in einem vertieften Vergleich mit Anselm von Canterburys Denkwelt.
Barbara Hallensleben