Ulrich Andermann / Michael Zozmann: Die Grafschaft Ravensberg im 17. Jahrhundert. Verfassung - Recht - Wirtschaft - Kultur (= Sonderveröffentlichungen des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg e. V.; 28), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2023, 299 S., 37 Farb-, 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-7395-1520-5, EUR 29,00
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Hervorgegangen aus einem Kolloquium im Januar 2023, rüttelt der vorliegende Band an einigen regionalgeschichtlichen Gewissheiten. 1909 feierte die Grafschaft Ravensberg ihre 300-jährige Zugehörigkeit zum Haus Hohenzollern mit einigem Pomp. 1609 wurde dadurch ein fixes Datum. Jetzt weist Wolfgang Schindler im einleitenden Beitrag über die Landesherrschaft in Ravensberg nach, dass bis 1647 Pfalz-Neuburg deutlich die vorherrschende Macht war (11-49). Er unterscheidet mehrere Phasen gemischter oder alleiniger Herrschaft von Brandenburg oder Pfalz-Neuburg nach dem Jülich-Klevischen Erbfolgestreit 1609. Während des 30-jährigen Kriegs geriet die Grafschaft in eine Krise und stand zwischen zwei Landesherren sowie zwischen Lutheranern und Katholiken, bevor Brandenburg 1647 stabilere Verhältnisse schuf.
Eine der Folgen des Übergangs an Brandenburg war die Einrichtung des Ravensbergischen Appellationsgerichts in Berlin, über das Tobias Schenk berichtet (51-130). Es wurde 1653 etabliert, um den Gang vor das Reichskammergericht oder den Reichshofrat zu vermeiden, denn das 1586 verliehene "privilegium de non appellando" galt nicht für die von Brandenburg neu erworbenen Gebiete. Dadurch entstand eine "justizpolitische Sonderentwicklung" und keine einheitliche Gerichtsverfassung, in der auch gegen alle Intentionen die höchsten Reichsgerichte ihren Platz hatten. Erhellend sind die Abschnitte über die ökonomischen Grundlagen des Gerichtspersonals, die vom Ämterkauf geprägt waren, und über das soziale Profil der Justiznutzer, die keineswegs nur aus Adligen bestanden.
Nicolas Rügge skizziert den Einfluss der Juristen in Ravensberg, der im 17. Jahrhundert in der landesherrlichen Verwaltung und in den Städten anwuchs (131-150). Er stößt dabei auf die Familien Consbruch und Meinders, die quasi im Zentrum eines bürgerlichen "Staatspatriziats" in einem Nebenland standen. Uwe Standera macht am Beispiel der Landhauptmänner deutlich, dass eine solche militärische Instanz zur Mobilisierung des Bauernheers 1609 noch nötig war, durch neue Waffentechnik und ein stehendes Heer 1718 aber abgeschafft werden konnte (151-172). Auch Philipp Koch setzt sich mit einem fortdauernden "Mythos" auseinander: "der Große Kurfürst habe sein Linnenländchen Ravensberg besonders geliebt und diesem ... eine außergewöhnliche wirtschaftspolitische Aufmerksamkeit geschenkt". (173) Er geht den Ursprüngen des Mythos nach und analysiert anhand harter Fakten die wirtschaftliche Lage zwischen 1609 und 1723 (173-203). Sie war geprägt durch die Auswirkungen der Kriege des 17. Jahrhundert, demographische Krisen, verursacht vor allem die Pest und Seuche, schließlich durch die Roggenpreise. Für den eingeschlagenen Pfad sieht er ein komplexes Bündel mehrerer Faktoren verantwortlich, daher werde "das protoindustrielle Erklärungsmodell ... weder den demografischen noch den ökonomischen Verhältnissen des langen 17. Jahrhunderts in ihrer Komplexität gerecht". (203)
Sebastian Schröder untersucht den Gemeindealltag und die Glaubenspraxis in mehreren ravensbergischen Landkirchspielen nach 1650 (205-238). Themen sind u.a. Pfarrerwahlen, die Versorgung der Pfarrerwitwen, das Konsistorium als Gerichtsinstanz und die Rolle der Küster. Ulrich Andermann falsifiziert am Beispiel von drei Stiftskonventen den Satz "cuius regio, eius religio". (239-260) Quernheim blieb evangelisch-lutherisch, das Reichsstift Herford strebte eine Anpassung an das reformierte Brandenburg an, Schildesche beherbergte seit 1672 drei Konfessionen unter einem Dach, wofür Andermann den Begriff "Trimultanstift" fand (260). Lutz Volmer beschließt den Band mit einem Beitrag über Hausbau und Sachkultur (am Beispiel von Möbel) zwischen 1620 und 1720 (261-285). Vorgeschaltet sind methodische Bemerkungen über Baukonjunkturen. Eindrucksvoll gelingt es ihm, das Werk eines auf dem Lande tätigen Zimmermanns zwischen 1661 und 1696 zu rekonstruieren.
Alle Beiträge argumentieren quellennah und verbinden Fallstudien mit übergeordneten Fragestellungen. Sie machen deutlich, dass eine Fixierung auf den 30-jährigen Krieg in der Regionalgeschichte zu kurz greift. Sie kehren die Blickrichtung der borussischen Geschichtsschreibung von oben nach unten um und kommen daher zu neuen Erkenntnissen. Ob es damit gelingt, damit das Jahr 1609 in der Grafschaft Ravensberg aus den Köpfen zu vertreiben, bleibt abzuwarten. Zusammen mit weiteren, vor kurzem erschienenen Publikationen [1] trägt jedenfalls der Band zu einer Neugewichtung der Frühneuzeit in Ravensberg (und den Nachbarterritorien) bei. Er hat deshalb auch überregional Beachtung verdient.
Anmerkung:
[1] Johannes Altenberend / Burkhard Beyer (Hgg.): Akzisestädte im preußischen Westfalen, Münster 2020; Ulrich Andermann / Michael Zozmann (Hgg.): Die Grafschaft Ravensberg in Mittelalter und Reformationszeit, Bielefeld 2021.
Wilfried Reininghaus