Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biographie, München / Zürich: Piper Verlag 2023, 528 S., 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-492-05993-0, EUR 28,00
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"Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach - denken". Dieses Zitat Hannah Arendts ziert nicht nur den Buchrücken des Werks von Thomas Meyer, dem Münchner Philosophen, sondern fungiert gleichsam als seine Maxime. Das viel beachtete und ausgezeichnete Buch stellt die erste umfassende Biografie Arendts seit längerer Zeit dar. Obgleich ihr Leben und Werk in den letzten Jahren breit diskutiert wurden, gelingt Meyer eine innovative Perspektive auf die Denkerin. Durch neue Quellen arbeitet er überzeugend die Bedeutung bislang wenig beachteter Lebensabschnitte heraus.
Das Buch gliedert sich in zehn unterschiedlich lange Kapitel. Beginnend mit der jüdischen Familiengeschichte der 1906 in (Hannover-)Linden geborenen und in Königsberg aufgewachsenen Hannah Arendt, behandelt Meyer danach die Prägung ihres (philosophischen) Denkens durch Martin Heidegger in Marburg und Karl Jaspers in Heidelberg. Mit beiden akademischen Lehrern verband die Studentin der Philosophie und des Altgriechischen eine enge intellektuelle und persönliche Beziehung. Gekonnt rekonstruiert Meyer das damalige philosophische Umfeld und die relevanten Debatten in den Universitätsstädten.
1929 heiratete Arendt den Philosophen und Schüler Edmund Husserls, Günther Stern (später Anders), und zog mit ihm nach Frankfurt am Main, wo sie in Kontakt mit dem Soziologen Karl Mannheim trat. Seinerzeit arbeitete Arendt mit einem Stipendium der Deutschen Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft an einer biografischen Studie über Rahel Varnhagen und die jüdische Salonkultur in Berlin im frühen 19. Jahrhundert. Während ihr Mann direkt nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 Deutschland Richtung Paris verließ, blieb sie zunächst im Land. Nachdem Arendt im Sommer allerdings verhaftet wurde, kehrte sie Deutschland den Rücken und floh ebenfalls in die französische Hauptstadt.
Dort arbeitete sie nach einer kurzen Tätigkeit als Sekretärin bei Arnold Zweig für die Organisation Agriculture et Artisanat, die jüdische Kinder und Jugendliche auf die Ausreise nach Palästina vorbereitete. Arendt führte sie dabei selbst in das damalige britische Mandatsgebiet. Das umfangreiche Kapitel über ihre Tätigkeit für die jüdische Organisation konnte Meyer mit zahlreichen neuen Dokumenten erhellen, vor allem Briefen. Sie sind teilweise im Buch abgedruckt und wie auch andere Originaldokumente durch ihre Schriftart optisch vom Fließtext abgesetzt. Dem Autor gelingt es durchgehend, die biografischen Stationen Arendts im Kontext der Ereignisgeschichte mit ihrem theoretischen Schaffen gut lesbar zu verbinden.
Neben ihrer praktischen Tätigkeit begann Arendt, vor dem Hintergrund ihres eigenen Schicksals, sich intensiver mit der Staatenlosigkeit, dem Antisemitismus und der jüdischen Emanzipation auseinanderzusetzen. Mittlerweile war ihre Ehe auseinandergegangen, und sie hatte den deutschen Emigranten und dissidenten Kommunisten Heinrich Blücher kennengelernt, den sie später heiratete.
Nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Blücher als feindlicher Ausländer in Frankreich interniert. Arendt selbst kam nach dem deutschen Angriff auf das Nachbarland im Mai 1940 in das südfranzösische Internierungslager Gurs. Nach ihrer Freilassung verbrachten sie und ihr neuer Ehemann einige Zeit in Montauban. Die Verhältnisse in Europa verschärften sich aber sukzessive, so dass das Ehepaar letztlich mit der Hilfe Varian Frys über Lissabon in die Vereinigten Staaten von Amerika floh, und zwar nach New York City.
Dort begann sie an dem Buch über die Ursprünge des Totalitarismus zu schreiben, befasste sich intensiv mit der Dreyfus-Affäre und fand mit ersten Aufsatzveröffentlichungen eine Resonanz in der amerikanischen intellektuellen Öffentlichkeit. Meyer zeichnet die Entstehung des Werks nach und beschreibt, wie Arendt der Genese der totalitären Gewalt in der Moderne akribisch nachging. Dieses Vorhaben stellte nicht nur eine historisch-theoretische Abhandlung dar, sondern spiegelte zugleich auch die biografischen Erfahrungen Arendts wider, ohne die nach dem Eingangszitat Denken unmöglich ist. Meyer schreibt: Das Buch "dokumentiert gerade im Unerhörten, schwer zu Akzeptierenden, dass genau an diesen Stellen Geschichte hätte anders verlaufen können. Weil sie es nicht tat, sondern weil sie sich fortbewegte, hin zur totalen Herrschaft, war es notwendig, daran zu erinnern, was auf dem Weg alles verloren ging. Insofern war das Buch autobiografisch grundiert. [...] Arendt hatte mit den Origins und den 'Elementen' zwanzig Jahre zwischen Denken und Handeln, Praxis und Theorie in Buchform gegossen". (281)
Ferner befasste sich Arendt ausgiebig mit jüdischen Fragen und setzte sich kritisch mit dem Zionismus auseinander. Eine Kontroverse löste 1957 ihre Position zu den Vorfällen in Little Rock, der Hauptstadt von Arkansas, aus, als sie den Einsatz der Nationalgarde durch Präsident Eisenhower kritisierte, um den afroamerikanischen Schülern den Zugang zur Schule gegen einen weißen Mob zu gewähren. Arendt war keineswegs für separierte Schulen, aber gegen eine Intervention der Bundesregierung in Erziehungsfragen.
Noch heftiger fiel die Kritik an ihr anlässlich ihrer Artikel in The New Yorker über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem Anfang der 1960er Jahre aus. Der israelische Geheimdienst hatte den Organisator des Judenmords in Argentinien aufgespürt und nach Israel gebracht, wo er vor Gericht gestellt wurde. Arendt beobachtete das Verfahren und fasste ihre Artikel zu dem Buch "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen" zusammen, das 1963 erschien. Darin stellte sie Eichmann als arbeitsteilig handelnden, unideologischen Bürokraten dar. Außerdem kritisierte sie die Rolle der Judenräte für ihre partielle Kooperation mit dem nationalsozialistischen Regime. Bereits die Artikel führten zu heftigen Kontroversen und Anfeindungen in der amerikanischen Öffentlichkeit. Einige Rezensionen des Buches fielen verheerend aus und warfen der Autorin eine Apologie Adolf Eichmanns vor. Die Kontroversen um das Buch hielten jahrzehntelang an, vor allem in Israel. Es wurde erst Jahrzehnte später ins Hebräische übersetzt.
Meyer zeichnet ebenso nach, wie sich Arendt zu einer frühen Medienintellektuellen entwickelte und die unterschiedlichen Formate zu nutzen wusste, um ihrer Position in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Neben dem Radio stehen hierfür vor allem Fernsehauftritte, von denen das Interview mit Günter Gaus von 1964 der bekannteste in Deutschland sein dürfte. Darin formulierte Arendt in Bezug auf Auschwitz, die Vernichtung der Juden: "Dies hätte nie geschehen dürfen. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer. Ich meine die Fabrikation der Leichen und so weiter - ich brauche mich darauf ja nicht weiter einzulassen. Dieses hätte nicht geschehen dürfen. Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden."
Die Biografie Meyers ist uneingeschränkt zu empfehlen. Die gelungene, gut lesbare Verschränkung der unterschiedlichen Lebensstationen mit ihrem theoretischen Werk unterstreicht die Bedeutung Hannah Arendts. Auf der einen Seite zeichnete sie eine ungewöhnliche Produktivität und Kreativität im Denken sowie eine erstaunliche Breite im Schaffen aus. Auf der anderen Seite spiegelte sich in ihrem Lebensweg die jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert in dramatischer Weise. Diese Verbindung von Exzeptionalität und jüdischem Schicksal arbeitet Thomas Meyer in hervorragender Weise heraus. Sein Buch wird sicherlich auf lange Zeit das Standardwerk über Hannah Arendt bleiben.
Sebastian Voigt