Nathalie Lévy / Alexis Chommeloux / Nathalie A. Champroux et al. (eds.): The Anglo-American Model of Neoliberalism of the 1980s. Construction, Development and Dissemination, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2022, XVII + 335 S., ISBN 978-3-031-12073-2, EUR 128,39
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Wer gewinnt beim akademischen Neoliberalismus-Bingo? Diese Frage drängt sich auf, wenn man den vorliegenden Sammelband zur Hand nimmt. Stolze sechs Herausgeberinnen und Herausgeber versammeln hier insgesamt 19 Aufsätze von 24 Forscherinnen und Forschern, vorwiegend (aber nicht nur) aus Frankreich. Das über 300 Seiten starke Werk kostet als Hard- wie Softcover saftige 130 Euro pro Exemplar. Es handelt inhaltlich über die Formierung und spätere Verbreitung des Neoliberalismus seit den 1970er Jahren zunächst innerhalb wie später auch jenseits der Anglosphere. Dessen ideelle Siegeszüge, politpraktische Etablierungen sowie krisenbedingte Herausforderungen werden von manchen Autorinnen und Autoren anhand verschiedener Beispiele bejaht, von anderen verneint, von wieder anderen gemischt beurteilt. Unterwegs werden beinahe alle einschlägigen Groß-Denker (Hayek, Friedman, Sachs) und Polit-Praktiker (allesamt männlich, natürlich bis auf Margaret Thatcher), Stichwörter (Privatisierung, Flexibilisierung, Vermarktlichung, Globalisierung) und Institutionen (Mont Pèlerin Society, Chicago School, Welthandelsorganisation, Weltwährungsfonds) eingeführt, diskutiert und abgearbeitet.
Aber braucht man ein weiteres teures Buch über den Neoliberalismus? Was war oder ist der Neoliberalismus eigentlich? Natürlich kann auch dieser Band keine Letztgültigkeiten liefern. Folgt man dem Tenor der Einleitung sowie der meisten der versammelten Beiträge, ergibt sich ein diffuses Bild: Das Thema ist zwar einerseits komplex, vielschichtig und undurchsichtig; dennoch scheint das Konzept andererseits irgendwie hegemonial gewesen zu sein. Das Buch will selbstbewusst eine vom Herausgeberkreis konstatierte Lücke in einem durchaus nicht mehr jungfräulichen Forschungsfeld schließen. Und das tut es auch - aber auf andere Art und Weise, als von den Herausgeberinnen und Herausgebern beabsichtigt.
Es stimmt bereits einigermaßen nachdenklich, wenn in der Einleitung, die eigentümlicherweise als dritter Text nach einigen sehr allgemeinen Ausführungen von Kenneth O. Morgan sowie Stéphane Porion und Sébastien Mort zu Liberalismen in England und den USA seit dem 19. Jahrhundert platziert ist, die Originalität des Sammelbandes fast schon beschwörend hervorgehoben wird. Nathalie Champroux, Alexis Chommeloux und Stéphane Porion zufolge soll es interdisziplinär-vergleichend um die spätere "Verbreitung" des Neoliberalismus "via hard law and soft law" (35) gehen. Um dies zu bewerkstelligen, ist der Band in drei Abteilungen organisiert: Der erste Teil vermisst die Ursprünge und Genese des neoliberalen Models primär auf ideengeschichtlicher Ebene; der zweite untersucht Transfers der Theorie in die politische bzw. gesellschaftliche Praxis vorwiegend innerhalb der Anglosphere; der dritte beleuchtet schließlich die Verbreitung neoliberaler Ideen und Praktiken in Kontinentaleuropa.
Im ersten, ideengeschichtlichen Teil betont Martine Azuelos die Resilienz des Neoliberalismus auch nach der Weltfinanzkrise 2007/08. Virgile Lorenzoni unterstreicht die Rolle neo-konservativer US-amerikanischer bzw. britischer Think Tanks. Raphaël Demias-Morisset arbeitet die Illiberalität des Neoliberalen Denkens kritisch heraus. Der Aufstieg neoliberaler Ideen zur diskursiven Hegemonie in Großbritannien wird von Peter Dorey nachgezeichnet. Einen interessanten Kontrapunkt in diesem Teil, in dem alle Texte zumeist vom geradlinigen Erfolg neoliberaler Diskursivierungen durch einschlägige Experten und Politiker ausgehen, setzt Robert Mason, der zeigen kann, dass die neoliberale Bewegung an ihren eigenen Maßstäben gemessen etliche politische Schlachten in der Praxis verlor, aber den breiteren ideenpolitischen Krieg im öffentlichen Raum gewonnen hat ("Winning without winning", 117).
Die im zweiten Teil versammelten transfergeschichtlichen Texte wenden sich verschiedenen Praxisfeldern zu. Inwiefern der "Originalism" (137) einiger konservativer Richter am US Surpreme Court von ökonomischen (Neo-)Liberalismen geprägt ist, untersuchen Thierry Kirat und Frédéric Marty. Eine langfristige Perspektive nimmt Nathalie Lévy ein, indem sie mithilfe von IMF-Indizes verschiedene Phasen von Regulierung (1913-1970), De-Regulierung (1971-2008) und Re-Regulierung (nach 2009) in Staat-Markt-Beziehungen im Finanzbereich einfangen kann. Stark personenbezogen ist der Beitrag von Catherine Mathieu, die die Transformationen des Neoliberalen am Beispiel der britischen Premierminister von Margaret Thatcher bis Boris Johnson verfolgt. Die Wirkungskraft neoliberaler Diskurse im Feld des britischen Gesundheitswesens - mit einer charakteristischen Verschiebung vom kollektiven Gemeingut hin zu individuellen Verantwortlichkeiten - untersucht Louise Dalingwater. Sehr anregend ist Jonathan Bells Beitrag, der die "Limits of the Neoliberal Paradigm" (211) als Heuristik auslotet, indem er die Geschichte der Aids-Pandemie mit dem Aufstieg neoliberaler Konzepte in den USA verbindet: Seien schwul-lesbische Aktivisten während der 1970er Jahre noch sehr explizit und individualistisch auf Distanz zum oft misstrauisch beäugten Staat gegangen, hätten die verheerenden Folgen der Pandemie während der 1980er und 1990er Jahre eine Rückkehr in die Arme des rudimentären US-Wohlfahrtsstaates bewirkt.
Der dritte und letzte Teil des Buches will nun die Verbreitung des Neoliberalen jenseits der USA bzw. Großbritanniens in den Blick nehmen. Ilas Ben Mna untersucht die globale Expansion des Disney-Konzerns und seiner Vergnügungsparks seit den 1980er Jahren als "Key Driver" (248) für neoliberale Logiken. Florence Descamps und Laure Quennouëlle-Corre weisen in ihrem bedenkenswerten Beitrag umfassend nach, dass der Einfluss des angelsächsischen Neoliberalismus auf die konkrete französische Reformpolitik ab Mitte der 1980er Jahre bestenfalls oberflächlich oder im Grunde marginal war. Selma Joss hingegen untersucht, wie sich ausgerechnet die expandierende Brüsseler Bürokratie der Europäischen Union in ihren Schriftstücken neoliberaler Semantiken der Anpassung und Flexibilisierung bedient. Rosella Carè befasst sich in ihrem Beitrag mit den ambivalenten Wirkungen sozial-unternehmerischer Förderinstrumente der Europäischen Union. Und schließlich diskutiert Barbara Curyło sich durch eine Kaskade von Paradoxien (in puncto Demokratie, Staatlichkeit, Eliten, Kapitalismus, Lebensstandard, Zeitlichkeit), die die Entfaltung neoliberaler Ideen im postsozialistischen Zentral- und Osteuropa in Verbindung mit den Sogwirkungen der Europäisierung in Form der EU-Osterweiterung erzeugt hätten - womit diese wiederum gegenwärtigen Illiberalismen in der Region Vorschub geleistet hätten.
Gilt "There is no alternative" also inzwischen auch für die mittlerweile zunehmend geschichtswissenschaftliche Forschung zur Geschichte des Neoliberalismus bzw. der Neoliberalismen seit den 1980er Jahren? Der oft raunende Trend zur neoliberalen Blackbox zeigt sich im besprochenen Band in vielen, aber glücklicherweise nicht in allen Beiträgen. Dabei wissen vor allem diejenigen Texte zu überzeugen, die nicht nur anhand von Höhenkamm-Zitaten oder konzeptioneller Beamten-Prosa nach historischen Belegen für ein geradliniges Wirken und teleologisches Ausstrahlen des angelsächsischen Neoliberalismus fahnden. Jonathan Bell bringt es in seinem Beitrag zur Aids-Krise auf den Punkt, wenn er fordert, vermeintlich stabile "neoliberale Chronologien" (221) viel stärker gegen den Strich zu bürsten. Und auch innerhalb der Geschichtswissenschaften gibt es mittlerweile einige hilfreiche Vorschläge, sich diesem Thema konstruktiv-kritisch zu nähern. [1]
Von daher besteht noch erheblicher Forschungs- und Diskussionsbedarf, gerade auch für die Geschichtswissenschaft, die das Augenmerk vor allem auf lange Perspektiven und widersprüchliche Entwicklungen, quellenbasierte Praxis- bzw. Gegenblicke von unten sowie quellenkritische Dekonstruktionen übergreifender Konzepte und Ideen richten kann. Die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen neoliberalen Initiativen, staatlichen Implementationsversuchen und gesellschaftlichen Reaktionen bzw. Adaptionen erscheinen dann als ein komplexes Zusammen-, Gegeneinander- und Miteinander-Wirken von Ideen und Praktiken. Deren Entwicklung wäre dann jenseits gut zitierbarer Ideologeme in bestimmten Feldern mit Blick auf konkrete Akteure empirisch zu untersuchen. Kurzum: Es geht nicht darum, ideologische Gratwanderungen auf dem Höhenkamm zu unternehmen, sondern die historischen Blicke insbesondere auf politische, gesellschaftliche sowie kulturelle Wechselwirkungen zu richten.
Wurde also die vom Herausgeber-Team behauptete Lücke am Ende gefüllt? Während einige Beiträge überzeugende Perspektiven präsentieren, bietet diese Publikation als solche auch Anlass zur kritischen Selbstreflexion: Man könnte nämlich einwenden, dass teure, heterogene und leider auch bisweilen generische Sammelbände wie dieser Ausdruck einer überhitzten akademischen Anhäufungs-, Verwertungs-, Maximierungs- und Impactlogik sind, die sich ironischerweise ausgerechnet am Neoliberalismus abarbeiten. Es hat sich dergestalt eine Kultur der Dauerklage und des Lamentierens über "den" Neoliberalismus etabliert, der dann oft implizit mit einer vermeintlich heilen (Nachkriegs-)Zeit vor den 1970er Jahren kontrastiert wird. Letztlich ist auch das hier zumindest in Teilen vollführte, vorbildlich transdisziplinäre Neoliberalismus-Bingo selbst ein gut laufendes Business, das internationale Konferenzen finanziert und Sammelbände wie diesen hervorbringt.
Anmerkung:
[1] Florian Peters: Neoliberal Takeover? How the Social History of Economic Ideas Contributes to Historicising Post-socialist Transformations, in: Forum Historiae 17 (2023) Nr. 2, 58-69.
Marcus Böick