Rezension über:

Kata Bohus / Peter Hallama / Stephan Stach (eds.): Growing in the Shadow of Antifascism. Remembering the Holocaust in State-Socialist Eastern Europe, Budapest: Central European University Press 2022, XII + 327 S., ISBN 978-963-386-435-7, USD 85,00
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Rezension von:
Sara Berger
Fritz Bauer Institut, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Sara Berger: Rezension von: Kata Bohus / Peter Hallama / Stephan Stach (eds.): Growing in the Shadow of Antifascism. Remembering the Holocaust in State-Socialist Eastern Europe, Budapest: Central European University Press 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/39562.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Kata Bohus / Peter Hallama / Stephan Stach (eds.): Growing in the Shadow of Antifascism

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Der vorliegende Sammelband geht auf die internationale Konferenz "Suppressed Historiography - Erased Memory?", organisiert vom Aleksander-Brückner-Zentrum für polnische Studien der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und vom Jüdischen Museum in Prag im Jahr 2015 zurück.

Es geht den Herausgebern und Beiträgern des Bandes um die Infragestellung der langfristig wirksamen These, dass die Erforschung des Holocaust und die Erinnerung daran in den osteuropäischen Ländern während des Kalten Kriegs in Gänze unterdrückt, ausgelöscht oder im Rahmen der antifaschistischen Doktrin politisch instrumentalisiert worden sei. Gegen diesen "Mythos des Schweigens" [1] wollen sie mit einer Bottom-up-Perspektive aufzeigen, dass Antifaschismus kein monolithisches Propagandanarrativ war, sondern abhängig von den jeweiligen zeitlichen und lokalen Kontexten und Personengruppen unterschiedliche Bedeutungen annehmen und somit auch die Judenverfolgung einbeziehen konnte: Überlebende des Holocaust, jüdische, aber auch nichtjüdische Aktivisten, Historiker, Schriftsteller, Künstler und Journalisten nutzten die - wenngleich deutlich limitierten - Handlungsspielräume des antifaschistischen Rahmennarrativs, um an den Holocaust in Osteuropa zu erinnern. Die Aufsätze beziehen sich auf die DDR, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und Teile der Sowjetunion in einer längeren Zeitspanne vom Ende der 1940er bis in die 1980er Jahre.

Der erste von vier thematischen Blöcken beschäftigt sich mit der Historiografie: Hier werden zum einen die Aktivitäten des jüdisch-kommunistischen Historikers Helmut Eschwege in der DDR sowie das breite Schaffen des tschechischen Historikers Miroslav Kárný in den 1970er und 1980er Jahren - die allgemein als eine Zeit charakterisiert werden, in der die Erinnerung an den Holocaust repressiv unterdrückt wurde - untersucht. Zum anderen nehmen Katarzyna Person und Agnieszka Żółkiewska exemplarisch die frühen Publikationen des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau in den Blick. Sie zeigen auf, welche Strategien die Verantwortlichen des Instituts verfolgten, um Schriftzeugnisse aus dem Ringelblum-Archiv veröffentlichen zu können: So nahmen sie eigenständig Anpassungen von Textstellen vor, um der staatlichen Zensur zuvorzukommen und den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Polen nicht zu beeinträchtigen. Sie konnotierten etwa kommunistische Parteimitglieder positiver und ließen Textstellen bezüglich der Komplizenschaft von nichtjüdischen Polen aus. Die Herausgeber veränderten zudem aber auch Textstellen, die Tabus wie etwa die Jüdische Polizei betrafen.

Der zweite Teil behandelt ungarische, litauische und polnische Gedenkorte mit Bezug zur Verfolgung der Juden. Kata Bohus zeigt für Ungarn auf, dass auch in den Nachkriegsjahren unter dem kommunistischen Parteiführer Mátyás Rákosi, die generell als eine Zeit des "Schweigens" angesehen werden, in den Gedenkfeiern der jüdischen Gemeinde für die "Kriegsmärtyrer" an den Holocaust erinnert wurde. Während sich Gintaré Malinauskaité mit dem Museum im IX. Fort in Kaunas beschäftigt, widmet sich Yechiel Weizman den jüdischen Friedhöfen und den Ruinen von Synagogen in Polen. Nachdem diese 1946 als "verlassenes Eigentum" definiert und von den polnischen Behörden übernommen worden waren, wurden nur wenige der noch erhaltenen Synagogen als historisch bedeutsame Denkmäler anerkannt. Doch die Ruinen und die verlassenen Friedhöfe erinnerten die Bewohner allein durch ihre Präsenz an die Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger. Ungefähr seit dem Ende der 1970er Jahre mehrten sich an vielen Orten die Stimmen derjenigen, die eine Auseinandersetzung mit den Orten einforderten.

Der dritte Teil behandelt den literarischen und künstlerischen Umgang mit der Judenverfolgung am Beispiel des sowjetischen Holocaustromans Schwerer Sand von Anatoli Rybakow sowie in Fallstudien zur offiziellen Auftragskunst und zu breitenwirksamen sozialistischen Romanen in Ungarn.

Ein vierter Teil nimmt den DDR-Journalisten Heinz Knobloch sowie die jiddische Zeitschrift Sovetish Heymland in den Blick, bevor Stephan Stach den Erfolg früherer deutschsprachiger Publikationen des Warschauer Jüdischen Historischen Instituts untersucht: die aus fünf Tagebüchern und Erinnerungen bestehende Sammlung Im Feuer vergangen. Der Aufstand im Warschauer Ghetto von Bernard (Ber) Mark und die Dokumentenedition Faschismus - Getto - Massenmord, die zwischen 1957 und 1960 in der DDR mit Autorisierung des Ministeriums für Kultur erschienen. Die weite Verbreitung und die Nutzung für pädagogische, dokumentarische und künstlerische Projekte sieht der Autor auch der Tatsache geschuldet, dass die Werke als antifaschistische Literatur vermarktet und in der Kampagne gegen NS-Verbrecher in der Bundesrepublik Deutschland verwendet werden konnten. In diesem Fall bildete der Antifaschismus den diskursiven Rahmen für die Thematisierung des Holocaust.

Abschließend resümiert Audrey Kichelewski, dass die in den Beiträgen erforschten Initiativen und Projekte die Darstellung einer vollständigen Unterdrückung der Erinnerung und Historiografie des Holocaust durch einen fälschlicherweise als monolithisch dargestellten Ostblock widerlegen. Es gab in den sozialistischen Staaten durchaus Akteure und Netzwerke, die sich bemühten, den Holocaust jenseits der reinen politischen Propaganda - wenn auch eingebettet in den antifaschistischen Diskursrahmen - zu thematisieren. Hierzu trugen auch inkonsistente Politiken sowie die dehnbare, unterschiedlich besetzte Definition von "Antifaschismus" bei.

Vielleicht ist die These eines nach wie vor existierenden "Mythos des Schweigens" etwas zu provokant formuliert. Dennoch erscheint die Zuspitzung auf die Frage nach den Spielräumen des Antifaschismus für das Verständnis der Nachgeschichte des Holocaust in Osteuropa sinnvoll. Das hier vorliegende Format eines internationalen Tagungsbandes mit einer Fülle von Fallstudien zu unterschiedlichen Ländern und Formen des Umgangs mit der Judenverfolgung ist besonders hilfreich, um das Verständnis für Vernetzungen, Gemeinsamkeiten und nationale Unterschiede zu schärfen. Dass ein differenzierterer, interdisziplinärer und länderübergreifender Blick auf die Länder Osteuropas fruchtbringend ist, zeigte auch die internationale Tagung "The Holocaust and the Cold War. Culture and Justice", die vom Fritz Bauer Institut und vom Imre Kertész Kolleg 2021 ausgerichtet wurde. [2]

Der vorliegende Band lädt zu weiteren kritischen Auseinandersetzungen mit der Thematik ein, auch mit Blick auf andere Disziplinen wie etwa die Filmwissenschaft. Nach wie vor bestehen interpretatorische Fragen zur Antifaschismus-Doktrin, etwa zu deren Periodisierung. Zu klären ist beispielsweise auch, inwiefern sich die in den Gesellschaften festgestellten Entwicklungen allein auf die staatlich propagierte Doktrin zurückführen lassen und inwiefern hier nicht auch andere Dynamiken wirkten. Hierzu zählen Fragen danach, welche Formen der Marginalisierung der jüdischen Bevölkerung sich auch in den Jahrzehnten nach dem Ende des Ostblocks oder in ähnlicher Form auch in westlichen demokratischen Ländern feststellen lassen.


Anmerkungen:

[1] Hasia R. Diner: We Remember with Reverence and Love. American Jews and the Myth of Silence after the Holocaust, 1945-1962, New York 2009; David Cesarani / Eric J. Sundquist (eds.): After the Holocaust. Challenging the Myth of Silence, London 2012.

[2] Vergleiche hierzu den jüngst erschienenen Tagungsband Katharina Rauschenberger / Joachim von Puttkamer / Sybille Steinbacher (Hgg.): Investigating, Punishing, Agitating: Nazi Perpetrator Trials in the Eastern Bloc, Göttingen 2023.

Sara Berger