Rezension über:

Katrin Steffen: Blut und Metall. Die transnationalen Wissensräume von Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2021, 568 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5013-7, EUR 59,00
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Rezension von:
Sylwia Werner
Universität Konstanz
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Sylwia Werner: Rezension von: Katrin Steffen: Blut und Metall. Die transnationalen Wissensräume von Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2021, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/39591.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Katrin Steffen: Blut und Metall

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Für die Geistes- und Literaturgeschichte sind Doppelbiografien - vitae parallelae - seit der Antike von großer Bedeutung. Sie stellen nicht nur das Leben "großer Männer" dar, sondern zeichnen zugleich auch ein eindrucksvolles Epochenbild im Spiegel voneinander unabhängiger exemplarischer Lebensläufe. Dass dieses traditionsreiche Genre auch in der heutigen geniekultkritischen und zunehmend gender-sensiblen Wissenschaftsgeschichtsschreibung eine aufschlussreiche Darstellungsform sein kann, zeigt die Wissenschaftshistorikerin Katrin Steffen in ihrer als Buch erschienenen Habilitationsschrift.

Anhand der Lebensläufe zweier polnischer Forscher, des Serologen Ludwik Hirszfeld (1884-1954) und des Metallurgen Jan Czochralski (1885-1953), entfaltet die Verfasserin die Geschichte von Wissenschaft, Technik und Medizin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem transnationalen Wissensraum, der sich von Polen über ganz Europa bis in die USA erstreckte und mit Politik, Industrie und Militär verflochten war. Steffen schreibt jedoch keine hagiografische Erfolgsgeschichte der großen Heroen, sondern erklärt deren Wirken aus den je spezifischen historischen und sozialen Kontexten. Gerade die vergleichende Gegenüberstellung der beiden bis 1939 weitgehend parallel verlaufenden wissenschaftlichen Karrieren Hirszfelds und Czochralskis eignet sich hierfür, da sie es erlaubt, aus unterschiedlichen Perspektiven das Wirkungsgeflecht von gesellschaftlichen, ökonomischen, sozialen, ethischen und kulturellen Faktoren zu untersuchen, deren besonderes Zusammenspiel die jeweilige Karriere prägte (Kapitel 1). Mit der Doppelbiografie wird also zugleich eine Doppelperspektive eingenommen, die die Gefahr einer zwanghaften Deutung vergangener Ereignisse auf einen bestimmten Sinn oder eine bestimmte Pointe hin vermeidet oder zumindest minimiert und stattdessen die Bedeutung von kontingenten Faktoren sichtbar macht: "Eine reflexive Auseinandersetzung mit dem 'gemachten' Leben ist daher geboten. Dazu gehört, die Brüche und Misserfolge in den Lebensläufen von Hirszfeld und Czochralski in das erzählte Leben zu integrieren". (21)

Den kulturalistischen Ansatz, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte nicht als lineare Abfolge von Entdeckungen und Erkenntnissen darzustellen, sondern als komplexen Prozess mit all seinen Durchsetzungsmechanismen und Konkurrenzen zu erzählen, macht die Verfasserin zur Methode und greift dabei auf die Theorie des Denkstils und Denkkollektivs des polnischen Mediziners und Wissenschaftstheoretikers (und Hirszfeld-Schülers) Ludwik Fleck zurück (Kapitel 1.1). Für die Lebensläufe von Hirszfeld und Czochralski heißt dies, nach Kontexten und Netzwerken zu fragen, das Umfeld zu erforschen und dabei die Ideenkonstellationen und Debatten zu berücksichtigen, in die sie eingebunden waren, denn der Weg zum Erfolg war oft steinig und von Rückschlägen gekennzeichnet. Die Verfasserin lässt sich auf dieses schwierige Untersuchungsmodell mit aller Konsequenz ein, indem sie die Untersuchungsgegenstände von Hirszfeld und Czochralski - Blut und Metall - im lokalen und transnationalen Kontext verortet (Kapitel 2.3) und dabei die Zirkulation von Wissen - von kleinen Laboratorien bis hin zu großen wissenschaftlichen Institutionen - nachzeichnet.

Stoffe und Substanzen wie Blut und Metalle erlebten in der Zeit der beiden Weltkriege eine Hochkonjunktur: Hirszfelds Blutgruppenforschung hatte großen Einfluss auf Medizin und Genetik, möglich wurde durch seine Forschungen eine detaillierte Diagnostik vieler Erbkrankheiten (Kapitel 3.1); seine Erkenntnisse waren auch für die Rechtswissenschaften ausschlaggebend, da nun die Vaterschaft durch einen serologischen Test nachgewiesen und das Ergebnis in Gerichtsverfahren eingesetzt werden konnte. Das von Czochralski entwickelte Verfahren zur Herstellung einkristalliner Werkstoffe (Silicium und Germanium) ermöglichte einen Durchbruch in der Mikroelektronik für die spätere Halbleitertechnik, aber auch in der Munitionsherstellung und im Eisenbahnwesen (Kapitel 3.6). Die Entdeckungen Czochralskis und Hirszfelds hatten weltweit große Bedeutung für die Etablierung der Disziplinen Serologie und Metallkunde und somit für die Entwicklung des Gesundheitswesens sowie der Technik; sie trugen in vielfacher Hinsicht zu politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen bei. Die Geschichte des Wissens und der Wissenschaft eröffnet zugleich tiefe Einblicke in die Gesellschaftsgeschichte.

Warum aber wurden gerade Hirszfeld und Czochralski als Protagonisten dieser doppelbiografischen Studie ausgewählt? Die Zwischenkriegszeit war in Polen durch eine außergewöhnliche Produktivität im Bereich der Wissenschaft (aber auch der Kunst und Philosophie) gekennzeichnet. Die Politik des Wiederaufbaus des polnischen Staates zielte auf die Entwicklung von Forschung und Bildung ab (Kapitel 4.2), was sich in der Einrichtung zahlreicher neuer Lehrstühle, die mit renommierten Wissenschaftlern besetzt wurden, und der Gründung von fachspezifischen Gesellschaften, Zeitschriften und Verlagen niederschlug. Das intellektuelle Milieu Polens in der Zwischenkriegszeit war vielfältig und lebendig - Hirszfeld und Czochralski gehörten dazu und waren zwei international sichtbare Spitzenforscher. Ein Austausch zwischen ihnen fand jedoch nicht statt, da sie sich weder persönlich kannten noch auf fachlicher beziehungsweise disziplinärer Ebene zusammenarbeiteten. Eine Doppelbiografie etwa von Hirszfeld und Hugo Steinhaus, der als Mathematiker statistische Untersuchungen für Hirszfelds Blutgruppenforschung durchführte, oder von Fleck und Rudolf Weigl, die unabhängig voneinander den Fleckfieberimpfstoff entwickelten, hätte es womöglich erlaubt, die Herausbildung neuer wissenschaftlicher Denkstile präziser zu beschreiben und die Zirkulationswege innerhalb einer Disziplin oder einer scientific community nachzuzeichnen. Dafür aber ermöglicht die akribisch recherchierte und mit unbekanntem Material gesättigte Rekonstruktion Steffens, die einzelnen Etappen der Karrierewege Hirszfelds und Czochralskis durch das Brennglas der Doppelbiografie abwechselnd zu beleuchten und die keineswegs homogene Entwicklung der polnischen Wissenschaft in prismatischer Brechung luzide vor Augen zu führen.

Sylwia Werner