Rezension über:

Eva-Maria Muschik: Building States. The United Nations, Development, and Decolonization, 1945-1965 (= Columbia Studies in International and Global History), New York: Columbia University Press 2022, 379 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-0-231-20025-7, USD 35,00
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Rezension von:
Sarah Wilder-Fehl
Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Sarah Wilder-Fehl: Rezension von: Eva-Maria Muschik: Building States. The United Nations, Development, and Decolonization, 1945-1965, New York: Columbia University Press 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 10 [15.10.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/10/38835.html


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Eva-Maria Muschik: Building States

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In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs spielten Fragen der Dekolonisierung und damit verbundene nationale Entwicklungs- und Staatsbildungsprozesse, insbesondere im sogenannten Globalen Süden, eine zentrale Rolle in der Arbeit der Vereinten Nationen. Diesem komplexen Zusammenspiel widmet sich Eva-Maria Muschik in ihrer Dissertation. Muschik fragt dabei nach der Rolle der Vereinten Nationen im Übergang von einem "Zeitalter der Imperien" hin zur postkolonialen Welt der 1950er und 1960er Jahre, einer Phase, in der sich ein "strange triumph of state sovereignty" beobachten lasse (2). Die Autorin legt den Fokus ihrer Untersuchung auf die Arbeit des UN-Sekretariats im Bereich der international technical assistance, wobei ausgewählte UN-Missionen in Libyen, Somaliland, Bolivien und dem Kongo als Beispiele herangezogen werden. Dabei soll aufgezeigt werden, wie Staatsbildungsprozesse von Seiten der Vereinten Nationen als Teil einer technokratischen Weltordnung verstanden wurden und eine zunehmende Fokusverschiebung auf Bereiche staatlichen Handelns beobachtet werden kann, die heute als governance bezeichnet werden.

Nach ihrer Gründung bildeten sich innerhalb der Vereinten Nationen umfassende Strukturen heraus, um die Herausforderungen der Dekolonisation zu bewältigen. Diese umfassten neben dem Treuhandsystem auch diverse Missionen des Sekretariats im Bereich der sogenannten technical assistance. Zentraler Bestandteil dieser Missionen war es, von UN-Seite sowohl Treuhandgebiete, noch bestehende Kolonien als auch bereits unabhängig gewordene Länder beim Aufbau und der Stabilisierung staatlicher Strukturen zu unterstützen. Nach einem kontextualisierenden Kapitel zur Entstehung dieses Systems widmet sich Muschik zunächst drei der vier ausgewählten Beispielmissionen, beginnend mit den beiden ehemaligen italienischen Kolonien Libyen und Somaliland sowie Bolivien. Für die Amtszeit von Generalsekretär Dag Hammarskjöld werden anschließend dessen Ideen zum Aufbau eines internationalen technischen Verwaltungsservices diskutiert, bevor sich Muschik abschließend der UN-Mission im Kongo der frühen 1960er Jahre zuwendet. Während Libyen und Somaliland in der frühen Phase der technical assistance noch als "laboratories for a new method of state creation" (61) dienten, wird aufgezeigt, wie sich die Rolle der Vereinten Nationen anschließend von einer zunächst weitestgehend beratenden Funktion hin zu immer stärker operativ ausgerichteten Einsätzen wandelte. Ausgehend vom bolivischen Fall, bei dem die UN erste Ideen zur gezielten Einsetzung internationaler administrative assistants testeten, zeigt Eva-Maria Muschik, welche Rolle Hammarskjöld in New York bei der Weiterentwicklung der UN technical assistance spielte. Obwohl es nie zur vollen Umsetzung seiner Vision eines globalen Verwaltungsservices kam, nahm der Generalsekretär entscheidenden Einfluss auf die UN-Mission im Kongo, dem letzten betrachteten Fallbeispiel. Auf der Grundlage von Hammarskjölds Plänen entstand dort die bis dato umfassendste zivile Mission der Vereinten Nationen. Diese trug den Entwicklungen der Missionen in Libyen, Somaliland und Bolivien Rechnung und verschob endgültig den Charakter der technical assistance hin zu einer Mission mit weitreichenden operativen Befugnissen der Vereinten Nationen im zivil-administrativen Bereich, die parallel zur militärischen UN-Friedensmission aufgebaut wurden.

In ihrer detaillierten Analyse der Arbeit des UN-Personals vor Ort illustriert Muschik die spezielle technokratische Herangehensweise der Vereinten Nationen an Staatsbildung als zentralen Bereich nationaler Entwicklung im Zuge der Dekolonisation. Die UN, so wird deutlich, verstanden sich in erster Linie als neutrale Organisation, die den neuen dekolonisierten oder auch als unterentwickelt geltenden Staaten Unterstützung in der Ausübung ihrer administrativen Aufgaben gewähren wollte. Als Grundstein erfolgreicher staatlicher Entwicklung wurde vor diesem Hintergrund primär die Fähigkeit der Staaten verstanden, einen funktionsfähigen Verwaltungsapparat aufzubauen, der als Voraussetzung weiterer Entwicklungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich galt. Vor dem Hintergrund des Nichteinmischungsprinzips und des Primats nationaler Souveränität, welche die Handlungsmöglichkeiten der Vereinten Nationen begrenzten, entstand darüber hinaus ein sehr nüchternes Verständnis von staatlicher Verwaltung als einer von politischen Prozessen getrennter Sphäre, zu deren erfolgreicher Ausführung es in erster Linie technischer Fähigkeiten bedurfte. Diese Annahme, so Muschik, führte dazu, dass technische Unterstützung von Seiten der UN als internationale Aufgabe begriffen werden konnte und zunehmend zu einer legitimen Form der Intervention wurde.

Eva-Maria Muschik gelingt es auf überzeugende Art, aus unterschiedlichen Perspektiven Schlaglichter auf die Arbeit der Vereinten Nationen in ihren technical assistance Programmen zu werfen. Die Fallbeispiele werden dabei gezielt durch die Linse der Weltorganisation und des beteiligten Personals beleuchtet, was spannende Eindrücke in das Tagesgeschäft der zahlreichen UN-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter vor Ort gewährt. Dieser Ansatz, dem die Autorin mit bemerkenswerter Geradlinigkeit treu bleibt, neigt jedoch dazu, die Forschungsergebnisse an der einen oder anderen Stelle zu verengen. Insbesondere in den ersten Kapiteln wäre es wünschenswert gewesen, hätte die Autorin ihre umfassende Quellenarbeit stärker mit bereits bestehender Forschung verknüpft. So entfalten die wichtigen Erkenntnisse des Buches in den ersten Kapiteln öfters einen rein deskriptiven Charakter.

Große argumentative Schärfe entwickelt die Verfasserin nichtsdestoweniger in den beiden abschließenden Kapiteln, die vor dem Hintergrund der Entwicklungen rund um Hammarskjölds Ideen in New York und der Kongo-Mission überzeugend darlegen, wie sich innerhalb der Vereinten Nationen ein entscheidender Wandel in der Handhabung der technical assistance Programme von reinen Beratungsaufgaben hin zu stärker operationell ausgerichteten Missionen vollzog. Muschik kann dabei plausibel aufzeigen, dass mit diesem Wandel auch weitere inhaltliche Verschiebungen einhergingen, die sich vor allem auf die Wahrnehmung und das Denken über Staatsbildungsprozesse und Fragen staatlicher Souveränität im postkolonialen Zeitalter konzentrierten: "It established a range of narratives of exception, allowing international officials to circumvent the principle of noninterference and thus render state sovereignty a less meaningful barrier against outside intervention". (249)

Mit diesem Werk legt die Autorin eine der wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zu den Vereinten Nationen der letzten Jahre vor. Die Verflechtung der Geschichte von Dekolonisierungs-, Entwicklungs- und Staatsbildungsprozessen sowie der Überlappungen der Ost-West- und Nord-Süd-Konflikte aus UN-Perspektive überzeugt durch das facettenreiche Bild der Vereinten Nationen, das hier gezeichnet wird. Muschik zeigt, wie die UNO ihren Platz als aktive Gestalterin der Dekolonisierung und damit verbundener Staatsbildungsprozesse zu finden und auf oftmals auf ambivalente Weise zwischen den neu entstehenden Staaten, traditionellen Kolonialmächten und weiteren globalen Akteuren agierten, die versuchten, Einfluss auf die Entwicklungen des Globalen Südens zu nehmen. Damit erweitert Eva-Maria Muschik auf entscheidende Weise unser Bild der Vereinten Nationen und ihrer Arbeit, das von der Forschung nur allzu oft auf die politischen Auseinandersetzungen ihrer zwischenstaatlichen Hauptorgane verengt wird.

Sarah Wilder-Fehl