Rezension über:

Philipp Bernhard: Geschichtsvermittlung postkolonial. Eine geschichtsdidaktische Vermessung Postkolonialer Theorie (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 32), Göttingen: V&R unipress 2024, 621 S., ISBN 978-3-8471-1698-1, EUR 85,00
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Rezension von:
Felix Hinz
Institut für Politik- und Geschichtswissenschaft, Pädagogische Hochschule Freiburg
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Felix Hinz: Rezension von: Philipp Bernhard: Geschichtsvermittlung postkolonial. Eine geschichtsdidaktische Vermessung Postkolonialer Theorie, Göttingen: V&R unipress 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 10 [15.10.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/10/39473.html


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Philipp Bernhard: Geschichtsvermittlung postkolonial

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Mit seiner vorliegenden Studie, die 2022 an der Universität Augsburg unter Erstbetreuung durch Susanne Popp als Dissertation angenommen wurde, ist Philipp Bernhard ein großer Wurf gelungen. Sein Hauptanliegen, die Bedeutung der Postkolonialen Theorie (oder "Postkolonialen Kritik", wie sie Bernhard zu nennen vorzieht, 41) für die Geschichtsdidaktik umfassend zu vermessen, stellte ein drängendes Desiderat dar. [1] Konkret nahm der Autor sich vor, zwei Fragen zu untersuchen: erstens, welche Relevanz und welches Potenzial die Postkoloniale Theorie für die Geschichtsdidaktik hat, und zweitens, inwiefern sich die Ansätze Postkolonialer Theorie zu bereits bestehenden Ansätzen der Geschichtsdidaktik als kompatibel erweisen (28).

Postkoloniale Theorie definiert Bernhard über vier seiner Meinung nach konstitutive Elemente ("Claims"), anhand derer er seine folgenden Analysen ausrichtet: 1. die Erweiterung des Kolonialismusverständnisses, 2. die Reflexion und Überwindung von Eurozentrismus (Wäre hier "Westzentrismus" das treffendere Konzept?), 3. die Auseinandersetzung mit "kolonialen Kontinuitäten" sowie 4. die Erweiterung des Rassismusverständnisses (30-31). (Ist aber das Bemühen, die Subalternen zum Sprechen zu ermächtigen, nicht ebenfalls ein zentrales Anliegen der Postkolonialen Theorie? [2]) Nach dieser chronologisch anhand einschlägiger Basistexte erarbeiteten theoretischen Grundlegung beschreibt Bernhard ausführlich den Forschungsstand zur Postkolonialen Theorie in der Geschichtsdidaktik. Hier und im Folgenden konzentriert er sich - sinnvollerweise - vornehmlich auf den deutschsprachigen Raum (29), nimmt jedoch durchaus auch lateinamerikanische und englischsprachige Diskurse in den Blick, die die deutschsprachigen beeinflussen (z.B. kanadische und britische, 251-260). In einem dritten Teil schließlich entwickelt Bernhard entlang seiner vier "Claims" Leitlinien für eine postkoloniale Geschichtsvermittlung. Dabei stellt er nach einer theoretischen Einleitung vorhandene Unterrichtsmaterialien vor, die er anhand seiner jeweiligen Teilfrage zu den "Claims" kritisch beurteilt. Einerseits bietet er auf diese Weise interessante Einblicke in bereits vorhandene Lehrmittel, andererseits sind diese nicht von gleicher Qualität und vermögen nicht in gleicher Weise seine Anliegen zu verdeutlichen. Von Bernhard selbst entwickeltes Mustermaterial wäre hier sicherlich anschaulicher gewesen, doch hätte dies einen erheblichen Mehraufwand und eben den Verzicht auf eine kritische Bestandsaufnahme vorhandener Lernmodule bedeutet, die übrigens vielfach nicht von Schulbuchverlagen oder aus der universitären Geschichtsdidaktik, sondern von postkolonialen Initiativen stammen.

Bernhard gelingt es in seiner Studie in beeindruckender Weise, die - obwohl die Postkoloniale Theorie erst zögerlich in der Geschichtsdidaktik aufgegriffen wird - doch bereits in Fülle vorhandene und theoretisch komplexe Literatur jeweils in ihren Kernaussagen zu fassen, zu vergleichen, zu ordnen und kategoriengeleitet abzuwägen. Er geht dabei sehr systematisch vor und bietet den Lesenden am Ende jeden Abschnitts Zusammenfassungen, um die jeweiligen Ergebnisse für den jeweils nächsten Vergleichsschritt zu verdichten. Auf diese Weise unterbreitet er einen fundierten Vorschlag zur Beurteilung des gegenwärtig bereits genutzten wie auch des zukünftig noch nutzbar zu machenden Potenzials der Postkolonialen Theorie für die Geschichtsdidaktik.

Seine Erkenntnisse lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass sich seiner Auffassung nach aus der Postkolonialen Theorie kein umfänglich anwendbares Unterrichtsprinzip ableiten lässt (550). Er widerspricht damit Stimmen, die unter Verweis auf Postkoloniale Theorie eine Revolution der Lehrpläne fordern (28, 247, Lundt: 196-197, Grewe: 206), doch hält er andererseits eine Globalisierung sowohl der schulischen wie auch der außerschulischen Geschichtsvermittlung für "längst überfällig" (550). Die Studie schließt mit Aufzeigen möglicher zukünftiger Forschungsansätze, von denen dem Rezensenten besonders der Dialog mit anderen Untersuchungsfeldern ergiebig erscheint (557-558). Denn Bernhard hat sicherlich Recht, wenn er den Kern der Postkolonialen Theorie im Bezug auf Kolonialismus sieht und sie nicht als universell anwendbar betrachtet. Ebenso ist ihm zuzustimmen, dass es auch z.B. "postnazionalsozialistische", "postsozialistische" oder "postmigrantische" Interpretationsebenen der Geschichte gibt, doch insbesondere auf die ersten beiden und auf die von Bernhard ebenfalls angesprochene postimperiale Ebene (557) bezogen scheint die Frage nach Überschneidungen geboten. Im Zusammenhang von Bernhards Postulat der alleinigen Anwendbarkeit der Postkolonialen Theorien auf europäischen Kolonialismus seit der Frühen Neuzeit (101) fällt das Fehlen einer genaueren Definition der Begriffe "Kolonialität" (86) und "Kolonialismus" auf (hierzu lediglich 270-277). Einerseits ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, inwiefern sich z.B. der japanische (z.B. Korea) oder der US-amerikanische Kolonialismus (z.B. Philippinen) vom europäischen grundlegend unterschieden haben sollen, andererseits hat z.B. Jürgen Osterhammel den Begriff (nicht nur verstanden als "Kolonialherrschaft", 299), eingehend analysiert und dabei verdeutlicht, dass sich verschiedene Formen von Kolonialismus unterscheiden lassen. [3] Wichtig scheint, dass es eben auch innereuropäischen Kolonialismus gab, wobei nicht ganz klar ist, weshalb dies den Kolonialismusbegriff, wie Bernhard es befürchtet, "überdehnen" sollte (40). Dort passen freilich seine "Claims" zu Eurozentrismus und Rassismus nur bedingt. Gerade in Bezug auf das Feld der vergleichenden Geschichte von Imperien und ihren Nachwirkungen [4] wäre durchaus näher zu fragen, inwiefern sich Postkoloniale Theorie zumindest teilweise nicht auch fruchtbar auf frühere, ja sogar buchstäblich biblische Zeiten anwenden ließe. "Postkoloniale Theorie" ist eben keine festgefügte Theorie (100). Es liegt an uns, weiter an ihr zu arbeiten und sie uns nutzbar zu machen.

Gewiss, dies läuft darauf hinaus, dass die europäischen Kolonialverbrechen dadurch relativiert werden, doch Bernhard nimmt seinerseits die Relativierung von Antisemitismus "partiell auch als eine Form von Rassismus" in Kauf (462). Die Singularität des Antisemitismus besteht jedoch darin, dass ihm gemäß Juden gerade nicht anhand physischer Merkmale definiert werden, sondern allenfalls als "seelische Rasse" [5], sie zudem nicht nur als minderwertig, sondern als geradezu schädlich gelten. Antisemit*innen streben bei Juden die globale Totalvernichtung an: Das ist in der Qualität unvergleichbar mit Rassismus gegen Schwarze oder andere Gruppen. In Zeiten nach dem 7. Oktober 2023 ist gerade im Hinblick auf den antisemitischen Missbrauch postkolonialer Theorie erhöhte Wachsamkeit geboten - nicht zuletzt in der Geschichtsdidaktik. [6]

Doch dies nur als Anmerkung zu einer (wenngleich wichtigen) Fußnote in Bernhards Respekt einflößenden Schrift, die ansonsten überzeugend argumentiert und eine fundierte Bestandsaufnahme der Relevanz postkolonialer Theorieansätze (nicht nur) für die deutschsprachige Geschichtsdidaktik bietet. Die Tatsache, dass sie als Orientierungs- und Informationshilfe, aber auch als Anregung open access zur Verfügung steht, ist sehr zu begrüßen und wird hoffentlich zu ihrer breiten Rezeption und Diskussion auch über die Zunft hinaus beitragen! Man muss Bernhard nicht in allen Punkten zustimmen, um den immensen Wert seiner gehaltvollen Studie zu erkennen. Der Rezensent hat viel gelernt und zieht seinen Hut!


Anmerkungen:

[1] Den bisherigen Stand der Forschung bildete Bernd-Stefan Grewe ab: Bernd-Stefan Grewe: Geschichtsdidaktik postkolonial - Eine Herausforderung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), 5-30.

[2] Gayatri Chakravorty Spivak: Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien/ Berlin 2020 (2008).

[3] Jürgen Osterhammel / Jan C. Jansen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. 9. Aufl., München 2021, insbesondere 19-28.

[4] Vgl. etwa: Michael Gehler / Robert Rollinger (Hgg.): Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche. 2. Bde., Wiesbaden 2014.

[5] Werner Dittrich: Vererbung und Rasse. Ein Hand- und Hilfsbuch für den Lehrer (Der Neue Stoff; Heft 2), Stuttgart 1936, 75.

[6] Ingo Elbe: Antisemitismus und Postkoloniale Theorie. Der "progressive" Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung, Berlin 2024.

Felix Hinz