Gert Geißler: Schulgeschichte in Deutschland. Teilband I: Von den Anfängen bis 1939, 3., erneut aktualisierte und erweiterte Auflage, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2023, 754 S., 689 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-90156-4, EUR 59,95
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Gert Geißler: Schulgeschichte in Deutschland. Teilband II: Von 1939 bis 2021, 3., erneut aktualisierte und erweiterte Auflage, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2023, 746 S., 561 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-90157-1, EUR 59,95
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Angelika Nußberger / Martin Aust / Andreas Heinemann-Grüder u.a. (Hgg.): Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg. Besichtigung einer Epoche, Berlin: Suhrkamp 2022
Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin: Ullstein Verlag 2023
Marcel Bois: Volksschullehrer zwischen Anpassung und Opposition. Die »Gleichschaltung« der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens in Hamburg (1933-1937), Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2020
In der dritten und überarbeiteten Auflage liegt Gert Geißlers Schulgeschichte vor, die 2011 erstmals erschien. Ein so umfangreiches und detailreiches Überblickswerk begegnet interessierten Leserinnen und Leser nur selten. Geißler konnte durch den inhaltlichen Ausbau der Darstellung und die Einfügung aktueller Forschungsbeiträge diese neue Auflage zu einem Opus in der Bildungsgeschichtsschreibung machen, an dem Interessierte nur schwer vorbeikommen. Die mühevolle über ein Jahrzehnt überspannende Arbeit, die Geißler in die zwei Teilbände investierte, ermöglichte ihm, die gesamte Bandbreite der schulgeschichtlichen Entwicklung im deutschsprachigen Raum abzudecken: Von der römischen Spätantike bis zur Covid19-Pandemie erstreckt sich dieses Werk und weist trotzdem stets detaillierte und fachkundige Innenansichten des Schulwesens zu den jeweiligen Zeitpunkten auf. Eine eindrucksvolle Leistung, die Würdigung verdient.
Der Bildungshistoriker, der an der Akademie der pädagogischen Wissenschaften seine akademische Karriere begann und seit 1992 am Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung tätig war, gliedert sein Werk chronologisch, wobei ein Fokus eindeutig auf das 19. und 20. Jahrhundert gelegt wird; eine aus quellentheoretischer und bildungsgeschichtlicher Sicht berechtigte Schwerpunktsetzung. Gleichzeitig überrascht die Kürze der vormodernen Schulgeschichte: Lediglich knapp 100 der insgesamt 1200 Seiten Darstellungstext der beiden Bände entfällt auf die Zeit vor dem 19. Jahrhundert. Geißlers Schulgeschichte kommt somit erst mit dem Beginn der Reformära im Zuge der napoleonischen Kriege richtig in die Spur. Die wiederholten Niederlagen der deutschen Teilstaaten ließen die Notwendigkeit aufscheinen, neben Militär und Verwaltung auch das Bildungswesen grundsätzlich neu aufzustellen.
Danach schließen sich Kapitel über das vorkaiserliche Schulwesen 1820-1871, das Schulsystem des Kaiserreichs und in der Weimarer Republik, die Schule im Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und der DDR sowie von 1990 bis 2021 im wiedervereinigten Deutschland an. Querschnittsthemen, die in jeder Epoche aufgerufen werden, sind unter anderem die Strukturen der unterschiedlichen Schultypen, Unterrichtsinhalte und Lehrerbildung. Geißler stellt das deutsche Schulwesen konsequent im Lichte lutherisch-preußisch gefärbter Tradition dar; so kommen katholische Bildungsbewegungen nur am Rande vor. Ein regionaler Schwerpunkt, insbesondere der Bildauswahl, stellt der Berliner und sächsische Raum dar. Erfrischend und kenntnisreich lesen sich aber die wiederholten Exkurse auf das jüdische Schulwesen unter anderem im Kaiserreich und Nationalsozialismus.
Angenehm für ein bildungsgeschichtliches Überblickswerk: Das im Feld sonst oft übliche Namedropping, das oft in eine Huldigung bestimmter pädagogischer Klassiker ausartet, bleibt aus. Vielmehr werden fast keine "großen Männer" namentlich genannt, im Fokus stehen Strukturen und gesellschaftliche Entwicklungen. Hierdurch unterlässt der Autor die sonst im Forschungsfeld übliche Überbetonung pädagogischer Ideen und Theorien, Leserinnen und Leser erfahren stattdessen viel nützliches Hintergrund- und Alltagswissen über den Zustand des Schulwesens in unterschiedlichen Epochen der deutschen Geschichte: Wie war der Zustand der Schulgebäude im Spätmittelalter? Wie funktionierte das deutsche Auslandsschulwesen in den Kolonien? Welche rechtlichen Grundlagen regelten das Schulwesen in der Weimarer Republik? Verdienten Lehrerinnen und Lehrer in der DDR wirklich weniger als Facharbeiterinnen und Facharbeiter?
Geißler interessiert sich für die "Lebensspuren namenloser" Zeuginnen und Zeugen (11), die zahllosen Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und sonstiger Akteurinnen und Akteure im Schulwesen, die die Lebenswelt Schule in den Jahrhunderten durchliefen und prägten. Ausdruck dieser Emphase ist die liebevolle Bebilderung der Werke: In über 1200 Abbildungen, die Schule, Kindheit und Aufwachsen darstellen - in der Mehrzahl alte Fotografien, die Geißler über 20 Jahre auf Flohmärkten sammelte, meist kenntnisreich und mit Witz kommentiert, stellt Geißler eben jene Namenlosen dar.
Durch die klare Gliederung, das abschließende Orts- und Sachregister sowie das das umfangreiche Literaturverzeichnis (über 200 Seiten) lassen sich die zwei Teilbände nicht nur als Überblicks-, sondern auch als Nachschlagewerk und Bibliografie nutzen. Aufgrund des biografischen Hintergrunds des Autors sind insbesondere die Kapitel zur Schulgeschichte der SBZ und DDR sehr gelungen, die in einschlägigen Überblickswerken westdeutscher Forscherinnen und Forscher oftmals vernachlässigt wird.
Einer der ganz wenigen Wehmutstropfen, der wohl dem Verlag anzulasten ist: Leider wurde anscheinend am Endlektorat gespart, sodass sich kleine Fehler im Satz, insbesondere in der Interpunktion finden. Dies behindert allerdings Lesefluss und Textverständnis nicht.
Das hier besprochene Werk stellt nicht nur eine weitere von vielen vorliegenden Überblicksdarstellungen der Bildungs- und Schulgeschichte im deutschsprachigen Raum dar. Tiefe, Präzision und konsequente Ausführung zeigen vielmehr auf, welchen wichtigen Mehrwert die jahrelange und unermüdliche Arbeit an einem Gegenstand bieten kann. Der in der kurzfristigen Projektfinanzierung zu findende Malus des heutigen Wissenschaftsbetriebs lässt solche Werke selten noch zu. Dass es auch anders gehen kann, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Zeit und Ressourcen zur Verfügung stehen, zeigt das vorliegende Buch.
Adrian Weiß