Yvonne Seale / Heather Wacha (eds.): The Cartulary of Prémontré (= Medieval Academy Books; No. 118), Toronto: University of Toronto Press 2023, XIV + 1000 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-1-4875-4483-6, USD 175,00
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Der Ort der ersten Niederlassung gab dem Orden seinen Namen: Vor 900 Jahren wurden die Prämonstratenser in Prémontré (bei Laon) gegründet. Nobert von Xanten (ca. 1075-1134) zeichnete für diese Gründung verantwortlich und führte Weltpriester zusammen, die als Regularkanoniker der Augustinus-Regel folgten, in Gemeinschaft lebten und in ihrem Tun Aspekte der vita activa und der vita contemplativa miteinander verbanden. Der stark auf pastorales Engagement hin ausgerichtete Lebensentwurf war für viele anziehend: allein in Frankreich entstanden im Mittelalter über 100 Prämonstratenserklöster.
Der vorliegende Band liefert die erste kritische Edition des aus dem 13. Jahrhundert stammenden Chartulars der Abtei Saint-Jean-Baptiste de Prémontré, das als ein "self-contained work" (9), als "vehicle for creating institutional memory and identity" verstanden wird. Sie besteht aus einer Transkription der 509 im Chartular versammelten Urkunden, historischen und textkritischen Anmerkungen, sieben Anhängen, einer umfangreichen Bibliographie und einem Index der Namen, Orte und Sachen. Das Chartular ist eine der wenigen Handschriften, die aus der Frühzeit des Klosters erhalten geblieben sind. Es stellt eine wertvolle Quelle für die sozio-ökonomische und religiös-institutionelle Geschichte des Klosters, des Ordens und der Regionen Picardie und Champagne im 12. und 13. Jahrhundert dar. Heute wird es in der Stadtbibliothek von Soissons verwahrt (ms. 7).
Die Urkunden geben Aufschluss darüber, wie sich diese bedeutende nordfranzösische Abtei als Mutterhaus des Prämonstratenserordens positionierte und mit der "Welt", sowohl mit Laien als auch mit Klerikern, interagierte. In einem einleitenden Essay gehen die beiden Herausgeberinnen nicht nur auf die Geschichte der Handschrift und der Abtei von Prémontré ein, sondern auch auf die Materialität des Chartulars selbst. Der Blick richtet sich auf die komplexe Herstellung von Chartularen, die in einen größeren institutionellen und archivalischen Kontext eingebettet werden.
Die Edition versteht sich als "feminist edition" (3), was in den Augen der Editorinnen ungleich mehr bedeutet als die Sichtbarmachung weiblicher Präsenz in den Urkunden. Die Edition wurde in dem Bewusstsein all der Möglichkeiten erstellt, "in which gender, class, and other forms of social power have shaped both how the manuscript was produced in the thirteenth century and how successive generations of readers and scholars have interacted with it through to the present day." (4). Selbstverständlich geht man nicht davon aus, dass ein feministischer Zugriff der staunenden Forschungsöffentlichkeit eine Art "Goldenes Zeitalter" für Frauen, die im 12. und 13. Jahrhundert in der Picardie lebten, offenbaren könnte.
Drei Dinge sind es, die diese "feministische Edition" charakterisieren: 1. eine stärker inklusive Lektüre, die bis dato unterbelichtete Machtstrukturen enthüllen soll; 2. Verweise auf eine breitere und sehr viel diversere Öffentlichkeit als bisher von der Forschung angenommen; 3. der Verzicht auf eine wie auch immer geartete Lenkung von Interpretationen durch editorische Entscheidungen. Die Arbeit selbst beruht auf zwei Prämissen: ein Chartular sei 1. kein neutrales Objekt, sondern zeige aufgrund seiner konstruierten Verfasstheit lediglich einen gefilterten Ausschnitt der Wirklichkeit. Es verdanke sein "framing" 2. editorischen Entscheidungen (wie etwa den Zusammenfassungen, Indices oder der Formatgestaltung), die die Edition keinesfalls zu einem "straightforward facsimile of a manuscript or other text" (4) werden ließen.
Ein gutes Beispiel für dieses "framing" liefern die knappen, von den Editorinnen erstellten Zusammenfassungen, die den Urkunden vorausgehen (der Terminus "Regest" taucht in keinem Fall auf). Einzelne Urkunden des Chartulars wurden bereits im 19. Jahrhundert ediert und regestiert und die Editorinnen zeigen hier tatsächlich, wie nützlich es sein kann, bereits im Regest zu erfahren, dass beispielsweise eine Grundstücksübertragung von Guillaume de Monthiémont an den Abt von Prémontré nicht nur stattgefunden hat, sondern dass diese Übertragung aus der Mitgift der namentlich genannten Ehefrau heraus erfolgt ist. Diese Information wird all denjenigen zu Gute kommen, deren Lateinkenntnisse nicht dazu ausreichen, den Inhalt der folgenden Urkunde zu rezipieren. Alle diejenigen aber, deren Sprachkenntnisse mehr als Englisch umfassen, werden die richtigen besitz- und übertragungsökonomischen Schlüsse aus dem Inhalt der Urkunde ziehen und werden auch sehr gut mit dem deutlich schmaleren Regest des 19. Jahrhunderts leben können, das allerdings den Nachteil hat, dass es von Männern verfasst wurde, die - horribile dictu - einen (von den Editorinnen augenscheinlich wenig geschätzten) "positivistischen" Zugriff auf die Materie pflegten.
Das Chartular umfasst acht große Abschnitte, von Privilegienverleihungen über päpstliche Bullen und bischöfliche Urkunden bis hin zu Besitzurkunden. Rund 80% der 509 Urkunden betreffen Besitzungen und die mit ihnen verbundenen Rechte in den Diözesen Laon, Soissons und Noyon. Die causa scribendi ist im Kontext der Abteigeschichte selbst zu verorten, ging es doch darum, den Status als Mutterabtei des gesamten Ordens zu bekräftigen und ein Zeugnis der eigenen politischen und ökonomischen Potenz abzulegen. Hergestellt wurde das Chartular in den Jahren 1239/40 von einem einzigen Schreiber, der nicht nur für ein uniformes Layout, sondern auch dafür Sorge trug, dass jeder Urkunde eine Kurzzusammenfassung vorangestellt wurde. Dort, wo die Kopien mit den erhaltenen Originalen verglichen werden können, wird eines deutlich: "He was meticulous" (47). Dieses genaue, sorgfältige Arbeiten kam freilich immer dort an seine Grenzen, wo mit den Tücken des qualitativ minderwertigen Pergaments umgegangen werden musste. Das Chartular trägt Benutzerspuren. Nach 1240 wurden noch rund zwei Dutzend Urkunden nachgetragen. Spätestens ab 1400 diente es als Quelle für die Geschichte der Institution, d.h. der Abtei, selbst. Der Großteil der Urkunden ist auf Latein, einiges Wenige in zeitgenössischen französischen Regionaldialekten verfasst.
Allein das Ordnungsprinzip der Urkunden nach sozialem Rang verdeutlicht, wie stark die frühen Prämonstratenser in Kategorien von Macht und institutionalisierter Autorität dachten, welch starken Bewegungen die "interpersonal dynamics" (15) im Lauf der Zeit aber auch unterworfen waren - was insbesondere für die Unterstützer aus dem lokalen Adel wie den Mitgliedern der Familie Coucy oder Dreux gilt. Für die Besitzgeschichte liefern die Urkunden des Chartulars reichen Ertrag. Sie verdeutlichen, wie rasch man in Prémontré Erfolg damit hatte, ein aus Grangien (in prämonstratensischer Diktion curtes genannt) und städtischem, in Saint-Quentin, Laon, Soissons und Noyon konzentriertem Immobilienbesitz bestehendes Patrimonium zu schaffen und zu "drivers of economic activities in the region" (19) zu werden. Illustriert wird dies zusätzlich anhand von reichem und aussagekräftigem Kartenmaterial.
Die Urkunden werfen Licht darauf, was es heißt, zu einem "Orden" zu werden, insbesondere mit Blick auf die Konkurrenz zwischen Magdeburg (wohin Norbert von Xanten 1126 als Erzbischof übergesiedelt war) und Prémontré. Sie verdeutlichen aber auch, wie sich die Vorstellungen darüber, was es hieß, "Prämonstratenser zu sein", im Laufe der Jahrzehnte wandelten - festgehalten vor allem in den neuen Statuten, deren Abfassung 1236-38 genau mit der Entstehung des Chartulars zusammenfällt.
Die Edition folgt der graphischen Gestalt des Originals, lediglich die Abkürzungen wurden aufgelöst. Eine gemäßigt moderne Interpunktion erleichtert das Verständnis. Jedem Urkundentext vorangestellt wurde das Ausstellungsdatum, eine Kurzzusammenfassung, bibliographische Informationen und die jeweilige Rubrik. In den Fußnoten sind (auf erhaltene Originalurkunden zurückgehende) Textvarianten und weitergehende (biographische, geographische) Hinweise fortlaufend abgedruckt.
Die Edition, auch in einer open-access-Version zugänglich, zeigt, dass die Chartularforschung klassischer Prägung durchaus anschlussfähig an neuere feministische Zugänge zur Materie ist. Sie ist nicht nur für die Ordensforschung, sondern ganz allgemein für all diejenigen von Belang, die sich mit der Wirtschafts- und Kulturgeschichte Europas im Übergang vom hohen zum späten Mittelalter beschäftigen.
Ralf Lützelschwab