Rezension über:

Mariana Budjeryn: Inheriting the Bomb. The Collapse of the USSR and the Nuclear Disarmament of Ukraine (= Johns Hopkins Nuclear History and Contemporary Affairs), Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2023, XVII + 310 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-1-4214-4586-1, USD 34,95
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Rezension von:
Lukas Baake
Berlin
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Empfohlene Zitierweise:
Lukas Baake: Rezension von: Mariana Budjeryn: Inheriting the Bomb. The Collapse of the USSR and the Nuclear Disarmament of Ukraine, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 11 [15.11.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/11/38390.html


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Mariana Budjeryn: Inheriting the Bomb

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Mariana Budjeryn widmet sich in ihrem Werk "Inheriting the Bomb" der Rolle der sowjetischen Nuklearwaffen während des Zerfallsprozesses der UdSSR und dem innenpolitischen wie diplomatischen Ringen um deren Verbleib. Ein besonderer Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf der Ukraine. Die differenziert argumentierende Monografie besticht nicht nur durch umfangreiche Quellenstudien und große methodische Sorgfalt, sondern vermag es auch, erhellende Fluchtlinien in die Gegenwart aufzuzeichnen.

"What could have been the greatest single wave of nuclear proliferation in history had been averted" (7). Was zunächst als nüchterner Befund daherkommt, versteht Budjeryn berechtigterweise als erklärungsbedürftigen Sachverhalt. Die Gründe und der genaue Verlauf der nicht erfolgten Verbreitung des sowjetischen Nukleararsenals stehen folglich im Zentrum der Arbeit. Eine Begründung der ausgebliebenen Proliferation mit dem bloßen Verweis auf den Einfluss der USA und Russlands, die als zentrale Akteure die kleineren post-sowjetischen Republiken Ukraine, Belarus und Kasachstan zu einer Aufgabe der auf ihrem Territorium stationierten Waffen gedrängt hätten, lehnt die Autorin zunächst als undifferenziert ab. Um die unterschiedlichen Haltungen und Verläufe verständlich zu machen, greift Budjeryn zu einem Bündel von Faktoren, bestehend aus innenpolitischen Dynamiken, Diplomatie, kollektiver Erinnerung und internationalem Recht. Innerhalb dieses Geflechts spricht Budjeryn Letzterem in Form des Nichtverbreitungsvertrags eine übergeordnete Rolle zu: "The nuclear portion of the Soviet inheritance, however, fell under a different set of rules, enshrined in a major international treaty aimed at preventing the spread of nuclear weapons: the NPT" (10). Diese These, die den Non-Proliferation Treaty in den Mittelpunkt stellt, wurde von der Autorin bereits in früheren Arbeiten entwickelt. [1]

Die der Arbeit zugrundeliegende Quellenbasis füllt mit ihrer geografischen Breite zahlreiche weiße Flecken der Historiografie. Umfangreiche Zeitzeugengespräche, Memoiren und Zeitungsberichte werden ebenso einbezogen wie diverse Archivbestände in den USA, Kyjiw, Moskau, Minsk und Almaty. Der beeindruckende Umfang der verwendeten Quellen, gleichermaßen Zeugnis der rezenten Freigabe diverser Archivalien wie auch der langjährigen Beschäftigung der Autorin mit der Thematik, macht "Inheriting the Bomb" zu einem Meilenstein der Forschung.

Budjeryn gliedert ihre Argumentation in zwei Abschnitte: Während in einem ersten Zugriff die Rolle von Nuklearwaffen im Kontext des sowjetischen Zerfallsprozess in den Mittelpunkt rückt, zeichnet der zweite Abschnitt den spezifischen Weg der unabhängigen Ukraine zum Budapester Memorandum von 1994 nach. Diese Bewegung vom übergeordneten Rahmen hin zum konkreten Beispiel ist leserfreundlich und transparent angelegt, führt jedoch bisweilen zu vermeidbaren Redundanzen.

Der erste Abschnitt beginnt mit einer stringenten Darstellung des sowjetischen Nuklearprogramms, erläutert die Verteilung des Nukleararsenals über verschiedene Teilrepubliken und leitet zügig in die Spätphase der Sowjetunion über. Mit dem sich abzeichnenden Verfallsprozess beherrschte die Sorge um neue Nuklearstaaten und die unkontrollierte Verbreitung auf dem Schwarzmarkt die internationale Staatengemeinschaft. Budjeryn zeigt dabei auf, wie ab 1990 insbesondere die USA versuchten, durch gezielte Initiativen, aber auch durch diplomatischen Druck den Zerfallsprozess einzuhegen und zu kontrollieren.

Die nachfolgende Darstellung verfolgt das Ringen um die Frage, wie mit der Sowjetunion abgeschlossene Abrüstungsabkommen nach deren Ableben weiterhin umgesetzt wurden. Budjeryn zeigt auf, wie es der Ukraine, Belarus und Kasachstan trotz der Opposition Russlands gelang, im Rahmen des START-I-Abkommens durch das Lissabon-Protokoll vom Mai 1992 als nukleare Nachfolgestaaten der Sowjetunion anerkannt zu werden. Diese Multilateralisierung von START ging für Russland und die USA mit einem klaren Bekenntnis der anderen Vertragsstaaten zum NPT einher, bestätigte jedoch aus Blick der Ukraine einen berechtigten Anspruch auf die Nuklearwaffen.

Im letzten Abschnitt dieser ersten Hälfte macht Budjeryn deutlich, dass neben der Ukraine die sowjetischen Nachfolgestaaten Belarus und Kasachstan ihr nukleares Erbe auf unterschiedliche Weise bewältigten. Aufbauend auf eigenen Archivforschungen und neueren Studien wird gezeigt, dass beide Staaten relativ zügig und ohne größere innenpolitische Auseinandersetzungen START ratifiziert und sich vom nuklearen Erbe losgesagt haben. In der Ukraine sei hingegen eine innenpolitische Debatte um mögliche Alternativen entstanden, da ein steigendes Unsicherheitsgefühl gegenüber Russland herrschte und ein größeres technisch-industrielles Potenzial vorhanden war.

Diese Darstellung des ukrainischen Wegs leitet zur zweiten Hälfte über, in der die Autorin der changierenden Haltung der Ukraine zu ihrem nuklearen Erbe nachgeht. Zunächst springt sie chronologisch zurück und beleuchtet die ukrainische Position im Spätabend des sowjetischen Projekts, die vor allem nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 von einem gegen Nuklearwaffen gerichteten Sentiment geprägt war. Somit fand sich ein Bekenntnis zur Abgabe der Nuklearwaffen bereits in zahlreichen Schlüsseldokumenten des Unabhängigkeitsprozesses. Die Darstellung der westlichen Versuche, die Anerkennung der sowjetischen Nachfolgestaaten an die Wahrung bestimmter Normen - wie START oder den NPT - zu knüpfen, gelingt Budjeryn überzeugend, richtet sich jedoch bisweilen zu einseitig auf die USA. Dennoch ist insbesondere die Rekonstruktion der innerukrainischen Debatte von besonderer Sorgfalt und Stringenz geprägt, die dabei deutlich differenzierter ist als beispielsweise die Darstellung von Yuri Kostenko. [2]

Das letzte Drittel des Buchs ist dem internationalen diplomatischen Ringen, den wachsenden russisch-ukrainischen Spannungen und der ukrainischen Debatte bis zum Budapester Memorandum 1994 gewidmet. Zunächst konstatiert Budjeryn einen entscheidenden Wandel in der ukrainischen Position: Die vollkommene Ablehnung der Nuklearwaffen auf dem eigenen Territorium wich der Haltung, dass die Ukraine einen legitimen Anspruch in Form von "ownership" habe und aus diesem Grund die Abgabe der Waffen an Russland nicht ohne hinreichende Kompensation erwirkt werden solle. Diese Position zeigte sich insbesondere in den zunehmenden Spannungen mit Russland über die Zukunft der Schwarzmeerflotte und dem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis der Ukraine. Allerdings stieß diese Haltung, die aus ukrainischer Sicht mit dem NPT im Einklang stand, auf den Widerstand der USA und der internationalen Gemeinschaft, die darin nicht nur eine potentielle Gefahr für das Fortbestehen des Nichtverbreitunsvertrags, sondern auch einen Faktor für Instabilität in Europa sahen. In dem damit einhergehenden diplomatischen Druck auf die Ukraine sieht Budjeryn die große Bedeutung des internationalen Kontrollregimes bestätigt: "Ukraine's claim for nuclear ownership was too nuanced, the NPT too comprehensive a regime" (186). Das diplomatische Tauziehen zwischen Russland und der Ukraine, größtenteils vermittelt durch die USA, gewann durch den Amtsantritt Bill Clintons ein neues Momentum. Einen Abschluss fand dieses im Dezember 1994 im Beitritt der Ukraine zum NPT im Rahmen des Budapester Memorandums. Budjeryn rekonstruiert dabei detailliert den Verhandlungsverlauf und interpretiert das Ergebnis als Ausdruck der Asymmetrie zwischen der Ukraine einerseits und Russland sowie den USA andererseits.

Von der genauen historischen Rekonstruktion ausgehend, schlägt die Autorin abschließend einen erhellenden Bogen in die Gegenwart. Die Annexion der Krim 2014 und die russische Intervention im Osten der Ukraine hätten die Fragilität der gefundenen Lösung um die ukrainische Denuklearisierung aufgezeigt. Zugleich hält Budjeryn in der Folge aufgekommene Debatten um eine verpasste Chance für eine nukleare Ukraine subtil auf Distanz. "Nuclear decisions" seien ihrer Natur nach multikausal. Die diskutierten Alternativen zur Denuklearisierung übersehen laut der Autorin, dass entscheidende Variablen - wie etwa staatliche Stabilität und internationale Legitimität - eine gänzlich andere Form angekommen hätten, wenn die Ukraine auf den Besitz von Nuklearwaffen insistiert hätte. Dieses Buch stellt einen wichtigen Beitrag zum Wandel des europäischen Sicherheitssystems nach dem Ende des Kalten Krieges dar und bietet zugleich eine erhellende Lektüre zur Genese der gegenwärtigen ukrainischen Position in Europa.


Anmerkungen:

[1] Mariana Budjeryn: The Power of the NPT: International Norms and Ukraine's Nuclear Disarmament, in: The Nonproliferation Review 22/2 (2015), S. 203-237.

[2] Yuri Kostenko: Ukraine's Nuclear Disarmament. A History, Cambridge / London 2020 (Rezensiert bei sehepunkte: https://www.sehepunkte.de/2023/ 05/36989.html).

Lukas Baake