Martin Liepach / Wolfgang Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen, 2. Auflage, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2024, 256 S., ISBN 978-3-7344-1631-6, EUR 24,90
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Martin Liepach / Wolfgang Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014
Martin Liepach / Dirk Sadowski (Hgg.): Jüdische Geschichte im Schulbuch. Eine Bestandsaufnahme anhand aktueller Lehrwerke, Göttingen: V&R unipress 2014
Antisemitismus an Schulen war bereits vor dem genozidalen Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ein gravierendes Problem [1], das seither eklatant zugenommen hat. [2] Schulen wird zugleich bei der Bekämpfung des Antisemitismus eine zentrale Aufgabe zugewiesen.
Mit welchen Fallstricken dies in Bezug auf die Thematisierung jüdischer Geschichte im Unterricht verbunden ist, machen die Autoren der vorliegenden Schulbuchanalyse gleich zu Beginn deutlich. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass die "Geschichte der Juden [...] nicht die Geschichte des Antisemitismus" (5) ist. Schulbücher hielten jedoch die "Trennung dieser beiden Perspektiven [...] selten" (5) ein. In der Folge dominiere die "Ausgrenzungs- und Verfolgungsgeschichte der NS-Zeit und des Mittelalters", auf die 70% der untersuchten Darstellungen des Judentums entfielen.
Jüdische Geschichte vornehmlich als "Opfergeschichte" zu erzählen, wird allerdings zum einen der facettenreichen Geschichte des Judentums nicht gerecht. Zum anderen ist fraglich, ob auf diese Weise Antisemitismus wirksam begegnet werden kann. Die Autoren fürchten, dass der "Blick auf Entwicklungen und Alternativen, auf die in der Geschichte vorhandenen Potenziale" verstellt bleibt und der Eindruck eines "Determinismus" entsteht, der "keine pädagogischen Überlegungen (Was hätte ich getan? Was hätte eine andere Entwicklung möglich gemacht?) mehr zulässt." (245)
Die qualitative Analyse von 74 Schulbüchern der Sekundarstufe I ist gegliedert in einen chronologischen Durchgang von der Antike bis in die Zeit "nach 1945", dem ein umfassendes Kapitel zum Thema "didaktische Herausforderungen" folgt.
Die jüdische Geschichte in der Antike stellt für die Autoren "eine Voraussetzung für das Verständnis der weiteren jüdischen und europäischen Geschichte" (23) dar. Die untersuchten Darstellungen blieben jedoch "weit hinter dem zurück, was [...] als ausreichend oder gar befriedigend gelten könnte." Beschreibungen der Diaspora evozierten bereits ein "Verfolgungsparadigma" (34), das dann auch die Darstellungen der jüdischen Geschichte des Mittelalters strukturiere: "Fast alle Bücher bemühen sich, möglichst schnell zu Ausgrenzung und Verfolgung zu kommen." (35) Schulbücher projizierten das Ghetto ins Mittelalter zurück, postulierten kontrafaktisch die Existenz einer umfassenden Kennzeichnungspflicht und verbreiteten den "Mythos" von Zinsverbot und Geldverleih (46).
Die jüdische Geschichte der Frühen Neuzeit mit dem bedeutsamen Thema der jüdischen Emanzipation bleibe in den meisten Büchern "eine Leerstelle".
In den Darstellungen zum Kaiserreich dominiere wieder die Verfolgungsgeschichte, so dass Aspekte wie jüdische Integration und Selbstemanzipation zu kurz kämen. Darüber hinaus verfingen sich Schulbücher "in der von ihnen selbst als pseudowissenschaftlich charakterisierten Begrifflichkeit" (70f) und liefen beim Versuch, Antisemitismus verstehbar zu machen, Gefahr, Verständnis zu erzeugen.
Auch Darstellungen der Weimarer Republik schrieben "das Bild vom Juden als permanenten Außenseiter" (75) fort und reproduzierten "durchweg antisemitische Zerrbilder" (84).
Eine deterministische Sicht dominiere die Darstellungen der NS-Zeit: Vorstellungen "vom unaufhaltsamen Aufstieg Hitlers", die "Überbetonung der Ideologie" und eine "Rhetorik der 'Verführung'" ließen Machtübernahme und Völkermord "als Verhängnis" erscheinen und bedeuteten in ihrer Konsequenz eine "Kollektiventschuldigung" (96f.). Es mangele an jüdischen Perspektiven, dominant seien "Quellen nationalsozialistischer Provenienz" (122), die oft nicht dekonstruiert oder kontrastiert würden, womit "in die Falle der Reproduktion der Täterperspektive" (126) getappt werde. Die "Schuldfrage" (135) werde kaum thematisiert, lediglich ein einziges Buch rege zur Auseinandersetzung mit der Frage nach individueller Erinnerung und deren Abwehr an (137).
Im überwiegenden Teil des Samples ende die jüdische Geschichte mit dem Holocaust. Die jüdische Geschichte nach 1945 werde "stiefmütterlich behandelt" (140) - ein vor dem Hintergrund der aktuellen Bedrohung jüdischen Lebens problematischer Befund.
Der Nahostkonflikt wird von den Autoren mit dem Verweis auf die "Komplexität der Thematik und die damit verbundenen didaktischen Herausforderungen" (5) ausgeklammert. So nachvollziehbar dies ist, so wünschenswert wären allerdings mindestens kursorische Hinweise gewesen, worin die "Komplexität" und die "didaktischen Herausforderungen" bestehen, nämlich beispielsweise in einem in Schulbüchern "vorherrschenden eindimensionalen Narrativ von Israel als Kriegs- und Krisenstaat" oder in der Ausblendung der "Besonderheit Israels als liberale Demokratie in einem nicht demokratisch geprägten regionalen Umfeld". [3]
Ein in der zweiten Auflage ergänzter Abschnitt "Qualitative Befunde 2014-2023" umfasst die Analyse weiterer 21 Schulbücher. Hier bestätigt sich die grundsätzliche Kritik, die seit Erscheinen der ersten Empfehlung der deutsch-israelischen Schulbuchkommission im Jahr 1985 immer wieder vorgebracht wird -, dass nämlich Erkenntnisse aus Wissenschaft und Fachdidaktik kaum Eingang in die Schulbücher finden. Es habe "unter dem Strich keine grundsätzlichen Änderungen" (20) gegeben.
Der zweite Teil des Buches beleuchtet didaktische Herausforderungen. Beispielsweise dürfe ein multiperspektivischer Zugang nicht dazu führen, dass "antisemitische Positionen aufgegriffen und verstärkt werden" (182), der Gebrauch des Begriffspaars "deutsch-jüdisch" berge die Gefahr der Dichotomisierung.
Die Autoren dekonstruieren das "Sündenbock-Theorem" als beliebt, aber beliebig, da es keine Erklärung liefere, "warum die Sündenböcke zu Sündenböcken wurden", warum es also gerade die Juden traf und, ein Zitat Hannah Arendts bemühend, nicht beispielsweise "die Radfahrer" (206). Dekonstruiert wird ebenfalls das "Sozialneid-Theorem". Werde "Antisemitismus aus seinen materiellen Motiven" erklärt, sei man "mit dem Umkehrschluss Juden=Kapitalismus schnell bei der antisemitischen Perspektive selbst angelangt." (214).
In einem weiteren Abschnitt setzen sich die Autoren mit den "Grenzen einer empathischen Annäherung an den Holocaust" auseinander und plädieren mit Werner Konitzer für eine "opfer-orientierte" Erinnerung anstelle einer "opfer-identifizierten" (222). Angeboten hätte sich hier der Hinweis auf eine grundlegende, Schüler/-innen und Lehrkräfte gleichermaßen betreffende Herausforderung, nämlich die notwendige Reflexion auf die eigene Eingebundenheit in antisemitische Traditionen und "Gefühlserbschaften". [4]
Es folgt ein Kapitel zur Ikonografie ("Wenn Bilder täuschen") (228ff). Die Darstellung endet mit Überlegungen zu "Fallstricken der Chrono-Logik" (240), die die bereits zuvor aufgezeigte Problematik deterministischer Darstellungen bündelt.
Die Studie reiht sich ein in eine längere, bereits in den 1960er Jahren beginnende Tradition der Schulbuchanalyse, über die die Autoren selbst einen Überblick geben (6ff. und 17ff.). Aktuelle Befunde zu Antisemitismus an Schulen verdeutlichen den Bedarf einer gründlichen Revision vorliegender Unterrichtswerke. [5] Selbst wenn auch die zweite, aktualisierte Auflage "kaum systematische Orientierungshilfe auf der Suche nach einer angemessenen Vermittlung der Geschichte der Juden im Unterricht" [6] bietet, etwa durch die Bereitstellung eines detaillierten Kriterienkataloges, so bündeln Martin Liepach und Wolfgang Geiger gleichwohl wissenschaftlich und fachdidaktisch fundiert die zentralen Herausforderungen, vor denen Schulbuchdarstellungen bei "Fragen an die jüdische Geschichte" stehen. Die Lektüre der vorliegenden Studie sei Schulbuchredaktionen, Zulassungskommissionen und nicht zuletzt Lehrkräften daher dringend ans Herz gelegt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Julia Bernstein: Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde - Analysen - Handlungsoptionen. Weinheim 2020.
[2] Bundesverband RIAS (Hg.): Jahresbericht Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023. Berlin 2024. URL: https://report-antisemitism.de/documents/25-06-24_RIAS_Bund_Jahresbericht_2023.pdf (11.10.2024), S. 20.
[3] Dirk Sadowski (Hg.): Darstellungen der jüdischen Geschichte, Kultur und Religion in Schulbüchern des Landes Nordrhein-Westfalen. Abschlussbericht, o. O. 2023. URL: https://www.schulministerium.nrw/system/files/media/document/file/darstellung_juedische_geschichte_kultur_religion_schulbuecher_nrw_abschlussbericht_gei_januar_2023.pdf (14.10.2024), S. 139f.
[4] Vgl. Jan Lohl: Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus. Eine sozialpsychologische Studie zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Gießen 2010.
[5] Vgl. Bernstein, RIAS. Siehe zu aktuellen Studien den Überblick von KMK und Zentralrat der Juden: https://www.kmk-zentralratderjuden.de/themenbereiche/studien-zu-antisemitismus-und-schule/ (11.10.24).
[6] Gregor Pelger: Rezension von: Martin Liepach / Wolfgang Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014. In: sehepunkte 15 (2015), Nr. 5 [15.05.2015], URL: https://www.sehepunkte.de/2015/05/26079.html (11.10.2024).
Florian Beer