Maria Griemmert: Comoedien, Curen, Correctionen. Ulms Fundenkinder in der Frühen Neuzeit (= Kultur Anamnesen Schriften zur Geschichte und Philosophie der Medizin und der Naturwissenschaften; Bd. 14), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 184 S., 21 Farb-, 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12988-6, EUR 46,00
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Die Geschichte der institutionellen Kinderfürsorge und ihrer sozialen, ökonomischen und politischen Dimensionen gehört nicht eben zu den bevorzugten Themen der aktuellen Frühneuzeitforschung. Dies mag daran liegen, dass das Gesamtbild spätestens seit der quantitativ-statistisch verfahrenden Studie von Antje Schloms (2017) weitgehend bekannt ist; vor allem aber sind sozialgeschichtliche Ansätze zur Erforschung der entsprechenden Herkunftsmilieus und sozio-ökonomischen Bedingungen und Gründe der verbreiteten Armut von Kindern in der Frühen Neuzeit (und darüber hinaus) im Zuge des cultural turn zumindest in der deutschsprachigen Forschung schon seit der Jahrtausendwende nicht mehr en vogue. Und so erscheinen zwar mit einer gewissen Regelmäßigkeit - häufig angestoßen durch institutionelle Jubiläen - weiterhin Einzelstudien zu einzelnen Einrichtungen institutionalisierter Kinderversorgung, die den Forschungsstand um regionale Beispiele bereichern, zu den sozialen (und kulturellen) Dimensionen städtischer Kinderarmut und deren Stellenwert in der frühneuzeitlichen (Stadt-) Gesellschaft jedoch in der Regel kaum neue Aspekte beitragen und damit tendenziell eher von lokalhistorischem Interesse sind.
Dies gilt im Großen und Ganzen auch für das hier besprochene Buch von Maria Griemmert, bei dem es sich um eine überarbeitete Fassung der unter demselben Titel vorgelegten (und online bereits publizierten) medizingeschichtlichen Dissertation der Autorin von 2018/19 handelt. Diese untersucht darin das sogenannte Ulmer Fundenhaus (Findelhaus) von der Mitte des 14. bis zum frühen 19. Jahrhundert unter institutions-, aber auch unter sozial-, rechts-, kriminalitäts- und medizingeschichtlichen Aspekten. Wie diese Aufzählung schon andeutet, hat Griemmert anders als die meisten anderen Arbeiten allerdings explizit den Anspruch, über die Geschichte der Institution hinaus auch deren Einbindung in die Stadtgesellschaft sowie die Lebenswelt der im Fundenhaus untergebrachten Kinder einschließlich ihrer "(Gewalt-)Erfahrungen" (8) in den Blick zu nehmen; angestrebt ist im Grunde also eine Art 'histoire totale' der Ulmer Fundenkinder, was die Arbeit zumindest in Teilen über den lokalhistorischen Rahmen hinaus interessant macht. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Ausführungen zum Fundenhaus als Straf- und Umerziehungsanstalt, als "propädiatrische Anstalt" sowie als reichsstädtischer "Kinderexperte".
Zuerst einmal zeichnet allerdings auch Griemmert die Geschichte der Institution nach, die "als eine städtische Unterbringungsmöglichkeit unversorgter Kinder [...] für den Zeitraum zwischen 1337 und 1812 durchgängig belegt" sei (19). In diesem Zeitraum von fast 500 Jahren wurde das Gebäude mehrmals im Zuge von Kriegshandlungen beschädigt oder sogar vollständig zerstört (so 1546 und 1552) und wechselte infolgedessen mehrfach den Standort. Der nächste Abschnitt widmet sich den "Menschen im Fundenhaus", insbesondere den unterschiedlichen Gruppen als versorgungsbedürftig klassifizierter Kinder (Findelkinder und Vollwaisen, Halbwaisen, uneheliche und 'fremde' Kinder) sowie den Kriterien und Konjunkturen der Aufnahme, die in den 1580er und 1590er Jahren sowie ab etwa 1660 Spitzenwerte erreichten, was Griemmert mit wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krisenzeiten erklärt. Um 1700 stieg dann der Anteil 'unverbürgerter' Kinder gegenüber den 'verbürgerten' Kindern massiv an, und ab etwa 1710 lebten fast nur noch 'unverbürgerte' Kinder im Fundenhaus. Daran schließt sich ein längerer Abschnitt über die finanziellen Ressourcen und Lebensgrundlagen sowie ein weiterer über den Alltag im Fundenhaus an, in dem Tagesablauf, Disziplin, Almosensammeln, schulischer Unterricht usw. diskutiert werden. All dies unterscheidet sich nur unwesentlich bzw. allenfalls in lokalen Besonderheiten von vielen anderen Anstalten; dazu gehören insbesondere die titelgebenden Theateraufführungen, mit denen die Fundenkinder ab 1639 für ein rundes Jahrzehnt die Bürger erfreuten, sowie das als "Berg" bezeichnete Ulmer Kinderfest, an dem die Fundenkinder mitwirkten.
Von prinzipiell allgemeinerem Interesse sind dagegen Griemmerts Ausführungen zu "Strafe und (Um)Erziehung", in denen sie anhand einiger aktenmäßig überlieferter Fälle einerseits auf sexuelle Kontakte der institutionalisierten Kinder bzw. Jugendlichen untereinander oder mit (männlichen) Angehörigen des Personals eingeht und andererseits die (Selbst-)Bezichtigung von (Funden-)Kindern im Zuge von Hexen- bzw. Besessenheitsvorwürfen in den 1660er und 1730er Jahren vergleichend in den Blick nimmt. Die Fallschilderungen und -analysen fallen allerdings insgesamt eher knapp aus und bleiben damit letztlich an der Oberfläche der behandelten Phänomene. Eingehender widmet sich Griemmert hingegen den medizingeschichtlichen Aspekten des Fundenhauses, von Diskursen über das richtige Stillverhalten über die (ebenfalls titelgebenden) "Curen" bis hin zu Seuchenprävention und chirurgischen Eingriffen. Dieser rund 30-seitige, mit quantitativen Befunden untermauerte Abschnitt, in dem die Verfasserin ihre disziplinäre Kompetenz ausspielen kann, ist ohne jeden Zweifel der fundierteste und interessanteste Teil der Arbeit. Bedauerlicherweise tritt dieser Themenkomplex jedoch hinter dem insgesamt stark lokal- und institutionsgeschichtlichen Zuschnitt und Aufbau der Arbeit zurück, der sich somit als eine Art epistemisches Prokrustesbett erweist. Darauf verweisen auch der eher summarisch-chronologisch als wirklich problemorientiert verfahrende und die Diskussion suchende Forschungsüberblick ebenso wie die seltsam asymmetrische Gliederung des Buches, die neben der (kurzen) Einleitung und dem (sehr kurzen) Fazit aus einem 120 Seiten umfassenden Hauptkapitel, in dem all die bislang genannten Themen und Aspekte nacheinander eher summarisch abgehandelt werden, sowie einem mit nur 20 Seiten sehr viel kürzeren 'problemorientierten' Kapitel besteht, in dem Griemmert ihre Ergebnisse anschließend zusammenfasst und ansatzweise in den Forschungskontext einordnet. Eine stärker problem- bzw. forschungsorientierte, (nicht nur, aber überwiegend) medizingeschichtliche Schwerpunkte setzende Fragestellung hätte dem Buch daher gutgetan und die diesbezüglichen Erkenntnisse, die es von anderen lokal- bzw. institutionengeschichtlichen Arbeiten abheben, besser ins Licht rücken können.
Markus Meumann