Rezension über:

Peter Krieger: Müll in der Natur. Eine Mikrostudie zur politischen Ikonographie, Ideengeschichte und Forensik des Anthropozäns, Marburg: Tectum 2024, XIX + 255 S., 142 z. T. Farb-Abb., ISBN 978-3-8288-4974-7, EUR 69,00
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Rezension von:
Roman Köster
Bayerische Akademie der Wissenschaften, München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Roman Köster: Rezension von: Peter Krieger: Müll in der Natur. Eine Mikrostudie zur politischen Ikonographie, Ideengeschichte und Forensik des Anthropozäns, Marburg: Tectum 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 12 [15.12.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/12/39020.html


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Peter Krieger: Müll in der Natur

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Das Thema Abfall hat in ganz unterschiedlichen Bereichen Konjunktur: In der Philosophie, in den Sozialwissenschaften ("Discard Studies"), der Ethnologie oder der Umweltgeschichte. Als Thema und Material ist der Müll in der Kunst ohnehin ständig präsent. Das Buch von Peter Krieger wählt hier einen ungewöhnlichen, nämlich bildwissenschaftlichen Zugang im Rahmen einer Mikrostudie: Das Naturschutzgebiet Pedregal de San Ángel Ecological Reserve (REPSA) am Rande von Mexico City, ganz in der Nähe von Kriegers eigener Universität gelegen. Die Ausgangslage ist dabei, dass es sich um einen gesetzlich geschützten Raum handelt, der aber nur auf den ersten Blick den Eindruck einer heilen, unberührten Natur macht: In Wirklichkeit ist das Repsa voll mit wild abgelagertem Müll, der sich teilweise in den Boden eingegraben hat, teilweise von Pflanzen überwuchert ist, teilweise offen herumliegt.

Krieger interpretiert Bilder dieses Mülls im Sinne einer Politischen Ikonographie des Anthropozäns, als Sinnbilder eines erdgeschichtlichen Transformationsprozesses: Das zentrale Motiv ist die Überlagerung der authentischen-biologischen Substanz durch anthropogene Technomasse. Das zeichnet eine so wenig nachhaltige Mega-Metropole wie Mexico City generell aus, ist aber insgesamt eine Folge der rücksichtslosen Aneignung und Überformung der Natur durch Urbanisierung und Kapitalismus mit Stoffkombinationen, die in der Natur selbst gar nicht vorkommen und von ihr nicht ohne Weiteres integriert werden können. Die Vielfalt von Flora und Fauna ist für das Überleben der Menschen zwingend notwendig, und doch finden sich noch in den entlegensten und scheinbar unberührten Natur Spuren dieser humanen Technomasse. Es gibt im wahrsten Sinne des Wortes kein Entkommen. Müll wird vielmehr zur neuen geologischen Schicht im Anthropozän.

Diesem Befund spürt der Autor in mehreren Schritten nach. Zunächst beginnt er mit persönlichen Annäherungen an den Gegenstand, in dem er Streifzüge durch das Repsa dokumentiert. Nach der historischen Rekonstruktion der Entstehung des Naturschutzgebietes und der Beschreibung seiner Flora folgt eine Darstellung der Ursachen der "Vermüllung" des Repsas durch Anrainer, Jugendliche, ja selbst die benachbarten naturwissenschaftlichen Fakultäten der Universität. Auch die Errichtung eines Schutzzaunes hat das Gebiet kaum vor dem wilden Entsorgen beschützen können. Das Eindringen und Durchdringen der Landschaft durch den Abfall dokumentiert der Autor immer wieder bildlich.

Es folgen Streifzüge in die Müllgeschichte, welche Bedeutung die Ansammlung von Müll für die Gebaute Umwelt der Städte seit der Antike besaß, wie der massenhafte Abfall schließlich zu einem Merkmal des modernen Kapitalismus wurde und sich zugleich in die räumliche und bauliche Struktur der Städte einschrieb: Durch die Ansammlung von Abfällen an den Rändern der Stadt, durch die sichtbare Markierung von "sauberen" und "schmutzigen" Stadtteilen und somit sozialer Ungleichheit, durch die tausenden von Menschen, die mit der Sammlung, Sortierung und dem Weiterverkauf von Müll ihr Dasein fristen. Das alles wird immer wieder rückbezogen auf Fragen der grundsätzlichen Transformation des Mensch-Natur-Verhältnisses, die Krieger für das Anthropozän diagnostiziert. Ein Ankerpunkt ist für ihn dabei immer wieder Abraham Cruzvillegas Müllmauer: ein im Repsa installiertes Kunstwerk, das die enge Verflechtung von Müll und zivilisatorischer Entwicklung ausdrückt.

Am Ende kontrastiert Krieger dann Dystopie und Utopie, wenn er zunächst die Vision einer immer weiter fortschreitenden Vermüllung der Menschheit entwirft - ein seit den 1960er Jahren immer wieder verwendetes Motiv. So hatte schon ein Bielefelder Stadtdirektor 1971 geschrieben: "Sollte es zu einer [...] Lösung nicht kommen, dürfte die Umweltverschmutzung durch derart feste Stoffe so zunehmen, dass die Menschen eines Tages nur noch in Müll leben. Reale Vision: Müllberge - in ihnen laufen Ratten herum mit menschlichem Gesicht. Sie kauen auf Plastikflaschen." [1] Demgegenüber werden aber auch hoffnungsvollere, "utopische" Perspektiven entwickelt, in denen die Menschheit einen besseren und nachhaltigeren Umgang mit der Natur und ihrer Diversität entwickelt. Das ist für Krieger gleichzeitig eine ethische und pädagogische Frage. Hier wird die Bedeutung des bildwissenschaftlichen Zugangs auch noch einmal nuancierter: es geht gleichzeitig um die Dokumentation und ästhetische Verarbeitung der geologischen Transformation im Anthropozän, aber eben auch um deren gesellschaftliche Verdeutlichung und Vermittlung.

Kriegers Analysen könnten gelegentlich etwas genauer sein. So wird etwa bei der Frage nach den Ursachen für das achtlose Wegwerfen beispielsweise der Wegwerfakt als Verdrängung im freudianischen Sinne gedeutet. Aber wäre dafür nicht die Mülltonne eigentlich der bessere Ort, weil das Verstauen dort ja den Müll tatsächlich erst zum "Verschwinden" bringt, bevor er potentiell als Schadstoff oder Gift in unsere Körper zurückkehrt? Ist das "Littering" nicht insofern tatsächlich achtlos, weil es egal ist, ob der Müll sichtbar ist oder nicht? Wenn Krieger davon schreibt (138), in der BRD würde der Müll genauso achtlos entsorgt und Umweltverbrechen genauso wenig geahndet, wie in Mexiko, hätte man sich vielleicht eine etwas aktuellere Quelle gewünscht als die Arbeit von Volker Grassmuck und Christian Unverzagt von 1991, die noch ganz im Banne der westdeutschen Giftdiskurse während der 1980er Jahre stand. [2]

Insgesamt hat Peter Krieger aber ein eindrucksvolles Buch geschrieben. Das Interessante an dem Buch ist der persönliche, multiperspektivische Zugang zum Thema Müll, der bei der Betrachtung größerer Zusammenhänge leicht unter den Tisch fällt. Stattdessen findet sich hier ein streifendes, sinnend-sinnliches Nachdenken über das Verhältnis von Abfall und Zivilisation. Der Ansatz einer Politischen Ikonographie des Anthropozäns bietet sowohl unter Erkenntnis- wie unter Vermittlungsgesichtspunkten dabei neue Perspektiven.


Anmerkungen:

[1] Roman Köster: Hausmüll. Abfall und Gesellschaft in Westdeutschland 1945-1990, Göttingen 2017, 238.

[2] Volker Grassmuck: Christian Unverzagt, Das Müll-System. Eine metarealistische Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 1991.

Roman Köster