Rezension über:

Rebecca R. Benefiel / Catherine M. Keesling (eds.): Inscriptions and the Epigraphic Habit. The Epigraphic Cultures of Greece, Rome, and Beyond (= Brill Studies in Greek and Roman Epigraphy; Vol. 20), Leiden / Boston: Brill 2024, XXIII + 366 S., ISBN 978-90-04-68311-2, EUR 151,94
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Rezension von:
Jonas Osnabrügge
Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Jonas Osnabrügge: Rezension von: Rebecca R. Benefiel / Catherine M. Keesling (eds.): Inscriptions and the Epigraphic Habit. The Epigraphic Cultures of Greece, Rome, and Beyond, Leiden / Boston: Brill 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 12 [15.12.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/12/39455.html


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Rebecca R. Benefiel / Catherine M. Keesling (eds.): Inscriptions and the Epigraphic Habit

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Seit Ramsay MacMullens Aufsatz von 1982 sind die Begriffe "Epigraphic Culture" und "Epigraphic Habit" zentrale und immer wieder bemühte analytische Kategorien in der althistorisch-epigraphischen Forschung. [1] Der besprochene Band, basierend auf dem Third North American Congress of Greek and Latin Epigraphy im Jahr 2020, stellt beide Begriffe in den Vordergrund.

Im einleitenden Kapitel bietet John Bodel eine ausgezeichnete Darstellung der Forschungsgeschichte und ihrer Probleme und plädiert für die Abkehr von traditionellen Definitionskriterien für Inschriften wie 'Materialität' und 'Dauerhaftigkeit'. Bodel kritisiert zu Recht die unzureichende Definition von 'epigraphic habit' und die fehlende Klarheit, auf welche Bereiche des Schreibens diese auszudehnen sei. Eine fruchtbare Innovation ist daher seine Konzeption des 'epigraphic mode', der sich zwar nicht exakt definieren lässt, aber das Augenmerk auf die spezifischen Möglichkeiten der inschriftlichen Kommunikation - Layout, Buchstabenformen, Raum- und Textbezüge etc. - legt. Dies bleibt allerdings auf MacMullens 'audience' fokussiert, weniger auf die Motivationen der Auftraggeber. Aus einer solchen, auf der Interpretation des kommunikativen Potentials von Inschriftmonumenten und des Bewusstseins des Auftraggebers für die visuelle Präsentation durch das moderne Auge beruhenden Herangehensweise ergibt sich jedoch die Gefahr der Überinterpretation. Zugleich wird die zumindest diskussionswürdige Prämisse, dass Kommunikation das Hauptmotiv für die Produktion von Inschriftmonumenten war (13), nicht weiter hinterfragt. Andere Ansätze sind denkbar, die mehr auf den ritualistischen bzw. partizipativen Charakter von Schriftsetzung oder die Partizipation an dieser Form von (In)Schriftlichkeit als kulturelle Praxis abheben. [2]

Die Beiträge sind nach "Regional Trends", "Civic Life", "Collective Identity" und "the Individual" gegliedert, obwohl sich diese Kategorien oft überschneiden, und es teilweise eher um medienspezifische habits geht. So etwa im ersten Beitrag von Caterina Stripeikis, der verschiedene Möglichkeiten, die in attischen Grabreliefs zur Generierung von Aufmerksamkeit zur Verfügung standen, analysiert. [3] Regionsspezifische Epitheta in den Grabinschriften aus Bargylia ermöglichen es Jan-Mathieu Carbon, verschleppte Inschriften diesem Ort zuzuordnen. Relevant in Bezug auf die methodologischen Konsequenzen solcher habits ist der Beitrag von Marta Fernández-Corral, welcher sich mit dem Vorkommen der tribus-Angabe in hispanischen Inschriften beschäftigt. Diese war nämlich weniger vom Herkunftsort der Aufsteller, als vielmehr vom habit am Aufstellungsort abhängig. Joanna Poruczniks ist der einzige Beitrag, der in einer statistischen Studie eine Untersuchung regionaler habits unter Einbeziehung aller Inschriften bietet, und zwar der Schwarzmeerstädte Olbia, Histria, Kallatis und Mesambria: Überzeugend bringt sie Spezifika des habits in Olbia mit der geringeren Integration in das Römische Reich in Verbindung. [4]

Das Potential raumbezogener Analysen des epigraphic habit zeigt der Aufsatz von Rebecca Benefiel und Holly Sypniewski, der die Verteilung von Graffiti in den Kanneluren der Säulen der großen Palestra von Pompeji analysiert. Diese Graffiti konzentrierten sich einerseits an den Säulen nahe der Treppenaufgänge und andererseits auf den Interkolumnien zugewandten Seiten der Säulen selbst. Dies hat Konsequenzen für Überlegungen zur Sichtbarkeit und Zugänglichkeit von Inschriften. Morgan E. Palmer und Kathryn E. Langenfeld beschäftigen sich mit spezifischen Assemblagen von Inschriftmonumenten im Atrium Vestae einerseits und der Kaserne der vigiles in Ostia andererseits. Hier zeigt sich die Bedeutung, die Inschriften in exklusiven Räumen für die soziale Kohäsion und Stabilität nach innen sowie den Ausdruck von Loyalität nach außen für Gruppen wie die vigiles und die fictores Vestae zukam. [5] Für die stadtrömischen Händler war hingegen die Angabe ihres Arbeitsortes in Grabinschriften von großer, identitätsstiftender Bedeutung, wie Jane Sancinito in ihrem Aufsatz überzeugend darlegt.

Andere Beiträge untersuchen weniger spezifische habits als vielmehr von epigraphischen Phänomenen ableitbare Praktiken: Sebastian Zerhoch untersucht die inschriftlichen Erwähnungen von Libationen, Susan Rahyab kann die bislang unterschätzte Rolle von agoranomoi als Garanten von Verträgen außerhalb Ägyptens inschriftlich belegen. Einige der Aufsätze unterziehen einzelne Inschriften einer tiefen Analyse. Sarah Breitenfeld etwa analysiert ein in den Bädern von Aquae Sulis deponiertes Bleitäfelchen, an welchem sich die Interaktionspotentiale zwischen Text, Textträger und Deponierungsort gut zeigen lassen - auch wenn das Beispiel bislang isoliert bleibt. Beiträge wie diese demonstrieren eher das Potential tiefer Analyse einzelner Inschriften unter Einbeziehung des räumlichen und zeitlichen Kontextes sowie möglicher Interaktionsmodi, als dass dadurch Rückschlüsse auf einen 'habit' möglich sind. Beachtenswert sind allerdings die Bemerkungen von Jessica Lamont, welche Athener Fluchtafeln untersucht: hier ist die Auswirkung einer sich entwickelnden epigraphischen Kultur und die Verbreitung von Inschriftlichkeit im Einfluss der Athener Monumentalinschriften auf Formen und Formulare der Fluchtafeln besonders gut zu greifen. Athen bietet sich als Untersuchungsfeld für die Interaktion zwischen städtischen Institutionen und epigraphischen Kommunikationsformen geradezu an [6], doch die Beobachtungen eröffnen Perspektiven auch für andere Zeiten und Orte.

Die Herausgeber haben explizit keinen präskriptiven Ansatz verfolgt, sondern den Forschenden Gelegenheit gegeben, zu zeigen, wie sie den Begriff des 'epigraphic habit' nutzen (xii.) - dies ist zugleich die große Stärke und Schwäche dieser Aufsatzsammlung. So zeigen die Beiträge, die überwiegend auf hohem Niveau verfasst sind, einerseits die methodische Vielfalt und Reife der epigraphischen Wissenschaft und zeigen auf, welche Fortschritte in vielen Bereichen der Alten Geschichte durch die Epigraphik möglich sind. Andererseits fehlt hier ein roter Faden, denn häufig wird gar nicht der Versuch unternommen, zu definieren, was überhaupt ein 'epigraphic habit' ist, bzw. wie dies im Kontext der Untersuchung verstanden wird. Überwiegend sind die Beiträge eher deskriptiv, was einen möglichen 'habit' angeht. Oft wird zudem nicht ganz klar, wie weitreichend und verallgemeinerbar die Beobachtungen sind. Die methodische und thematische Heterogenität liegt in der Natur des Mediums Sammelband, doch bei diesem Titel wäre vielleicht eine konsequentere Orientierung auf die Frage nach der Natur von 'epigraphic culture' und 'habit' wünschenswert gewesen.


Anmerkungen:

[1] Ramsay MacMullen: The Epigraphic Habit in the Roman Empire, in: AJPh 103 (1982), 233-246.

[2] Dieser Frage bin ich nachgegangen in Jonas Osnabrügge: Die epigraphische Kultur an Oberrhein und Neckar in römischer Zeit, Stuttgart 2024, z.B. 464f.

[3] Zur Frage, wie aufmerksam Inschriften gelesen wurden auch Peter Kruschwitz: Epigraphy: the Art of Being Nosy?, in: Chiron 52 (2022), 181-199.

[4] Der gleiche Ansatz bei Krzysztof Nawotka (ed.): Epigraphic Culture in the Eastern Mediterranean in Antiquity, London / New York 2021.

[5] Ähnliche Beobachtungen in Bezug auf die community der Beneficiarier in Osterburken und Obernburg: Osnabrügge 2024 (wie Anm. 2), 218-220, 240-252.

[6] Vgl. etwa Christopher L. DeLisle: Crystalising Initiation: The ephebic inscriptions of Hellenistic Athens (im Druck).

Jonas Osnabrügge