Hans-Jürgen Schings: Die Revolution des Feindes. Studien zum Ideenkrieg 1914 gegen 1789, Würzburg: Königshausen & Neumann 2024, 418 S., ISBN 978-3-8260-8324-2, EUR 60,00
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Stig Förster (Hg.): Vor dem Sprung ins Dunkle. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1880-1914, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide. Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor, München: C.H.Beck 2018
Marie Czarnikow: Diaristik im Ersten Weltkrieg. Zwischen Alltagspragmatik und Privathistoriographie, Berlin: De Gruyter 2022
Über den Geist bzw. Ungeist des "Augusterlebnisses" von 1914 ist viel nachgedacht und publiziert worden. Zunächst ging es ab den 1970er Jahren um die Intellektuellen und deren Beitrag zur Kriegsverherrlichung und nationalistischen Propaganda. Dann gab es mit dem Aufkommen einer "Geschichte von unten" eine Welle der Augusterlebnis-Kritik, indem gezeigt wurde, wie wenig allgemein doch der Hurra-Patriotismus auf deutscher und französischer Seite im August 1914 wirklich war.
Das hier anzuzeigende Buch des Berliner Germanisten Hans-Jürgen Schings nimmt den Faden der Erzählung "von oben" wieder auf - allerdings auf eine höchst originelle und weiterführende Weise. In dieser Historiographie ging es immer um die Polarität der deutschen "Ideen von 1914" und den französischen Freiheits-Topoi, die sich in dem keyword "1789" kondensieren. Das ist auch sicher die entscheidende Polarität gewesen, denn dem französischen "Aux armes citoyens" antwortete das deutsche "Auf in den Kampf", wie es Kaiser Wilhelm II. im August 1914 formulierte. Wenn es dabei auf deutscher Seite vorgeblich um "Sein oder Nichtsein" gegen eine "Welt von Feinden" ging, so beharrten die französischen Politiker und Ideengeber bei der Ausrufung des totalen Verteidigungskriegs auf die klassischen Werte der Republik: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, welche als "Ideen von 1789" apostrophiert wurden und nun den Sieg der deutschen "Barbaren" verhindern sollten.
Schings sagt zu Recht, dass in den vielen Arbeiten zu diesem Thema bislang der Zusammenhang der deutschen "Ideen von 1914" mit der französischen "1789" -Topik nicht hinreichend beachtet worden ist. Er hat sich nun auf beiden Seiten einige besonders bekannte Intellektuelle herausgesucht, deren August 14-Diskurse er mit äußerster Präzision und Detailkenntnis untersucht. Die vielen ausführlichen Fußnoten zum Text sind oft veritable Bibliografien zu Einzelfragen (etwa S. 108 zu den "Ideen von 1914") und zu den weiteren, in der Darstellung nicht thematisierten Persönlichkeiten und Problemen. Auch Sachkundige werden hier immer wieder Neues finden.
Der Verfasser hat als eine weitere und starke Neuigkeit die Absicht, den "Ideenkrieg" zwischen Deutschland und Frankreich nicht auf den August 1914 und die Propaganda im Ersten Weltkrieg zu beschränken, sondern bis 1933 und darüber hinaus fortzusetzen. Hat Goebbels nicht 1933 erklärt, dass mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus "das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen" werde? (14). Diese Erweiterung bringt oft auch tatsächlich neue Einsichten, ist manchmal aber auch etwas weit hergeholt.
Die ersten Kapitel gelten den französischen Intellektuellen und Schriftstellern Henri Barbusse, Louis Ferdinand Céline, Charles Péguy und Henri Bergson. Aus deren Werken wird vieles eruiert und zitiert, was die Kraft des Nexus "1789", und die Aktualität der Ideen der Französischen Revolution für den Großen Krieg von 1914 deutlich zeigt. Leider aber findet sich hier kaum etwas (andeutungsweise manchmal in Fußnoten) über die Gesamtorganisation der französischen Kriegspropaganda, unter deren Fahnen sich die französischen Intellektuellen und Historiker seit August 1914 massenhaft und kontinuierlich stellten -und die ja wohl auch erst den hypertroph-verzweifelten Rekurs deutscher Gelehrter und Intellektueller auf die "Ideen von 1914" hervorrief. Deren schlimmstes Beispiel ist der berüchtigte "Aufruf der 93" vom Oktober 1914 ("Es ist nicht wahr..."), den Clemenceau später einmal als das schlimmste deutsche Kriegsverbrechen tituliert hat.
Den vielleicht bedeutendsten unter diesen deutschen Intellektuellen ist der dritte Teil des Werkes (107-174) gewidmet: Werner Sombart, Rudolf Kjellén, Ernst Troeltsch, Johann Plenge, Oswald Spengler, Moeller von den Bruck, Hugo Ball. Für diese Autoren wird nachgewiesen, dass ihr Denken in Kriegs- und Nachkriegszeit immer wieder das Problem der Abgrenzung zwischen den Ideen von 1914 und der westlich-rationalen Tradition von "1789" umkreiste. Plenges Idee des "nationalen Sozialismus" versuchte gar, eine Synthese zwischen beiden zu finden. Und Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" und weitere Werke kreisen um das Bedürfnis, die neue "konservative Revolution" an die alte Polarität von 1914 versus 1789 anzubinden -sie in die Tradition der "Ideen von 1914" zu setzen.
Ein eigenes Kapitel IV (177-242) ist Thomas Mann gewidmet, bzw. dessen Auseinandersetzung mit französischen Autoren und - nicht zuletzt! - mit seinem Bruder Heinrich. Es ist erstaunlich, wie stark doch über die Jahrzehnte der Polemik und des Disputes hinweg der Antagonismus zwischen dem französischen Freiheitdiskurs ("1789") und die Gleichwertigkeit eines besonderen "deutschen Weges" ("1914") bleibt. Das gehört natürlich alles zur Geschichte der "Sonderwegs"-Problematik, die in diesem Buch aber nicht sehr explizit wird.
Das nach meinem Gefühl stärkste Kapitel dieses immer wieder erstaunlichen Buches ist das Kapitel V (245-317) über Ernst Jünger. Ausführlich und jederzeit nachvollziehbar wird gezeigt, wie im Werk von Jünger die Formel "1914 versus 1789" "gleich mehrere Metamorphosen" zwischen den "Stahlgewitter"- Schriften der Nachkriegszeit bis hin zum "Arbeiter" und der Studie "Über den Schmerz" Anfang der 1930er Jahre durchlebt. Jüngers ursprüngliche Zurückweisung der "westlichen Wertewelt" spiegelt sich in der brüsken Ablehnung des "westlichen" Kultes um den "Unbekannten Soldaten." Dasselbe gilt für Jüngers "Lieblingsfeind" (270), nämlich alle Formen saturierter Bürgerlichkeit. Beeindruckend, wie Schings nachweist, dass Jünger trotz seiner nationalistischen Phraseologie keineswegs dem Nationalsozialismus verfällt, wie allzu oft behauptet wird. Und sehr schön die von Helmuth Kiesel übernommene Bemerkung, dass Jünger seine Ablehnung einer Aufnahme in die Preußische Akademie der Künste im Herbst 1933 (!) damit begründet, dass seine Arbeit "an der deutschen Mobilmachung (...), in deren Dienst ich seit 1914 tätig bin" durch eine solche Mitgliedschaft unmöglich gemacht werde (277). Der Abschnitt über Jüngers "Totale Mobilmachung" und deren Platz in der Polarität "1914 versus 1789" ist vielleicht das beeindruckendste Stück dieses Buches (287 ff). Quellenkunde, Epistemologie und philologische Differenzierung sind hier auf das Glücklichste vereint.
Das letzte Kapitel VI geht im Wesentlichen über Edgar Julius Jung und dessen "Konservative Revolution". Auch hier gibt es viele nützliche und nicht alltägliche Informationen, aber im Vergleich zu dem Jünger-Kapitel erscheint es mir doch als zu ausführlich, manchmal redundant. Es ist vielfach eine Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsliteratur (besonders der monumentalen Arbeit von Rainer Orth). Selbst ein gespannt folgender Leser beginnt hier zu ermüden. Man fragt sich auch immer wieder, ob die "Weltkriegsformel", die nach Schings hier an ihr Ende gebracht wurde (388), in dieser Arbeit nicht doch ein wenig überstrapaziert worden ist.
Nonobstant: "Die Revolution des Feindes" ist ein innovatives und unbedingt lesenswertes neues Buch über ein "altes" Thema.
Gerd Krumeich