Rezension über:

Zbigniew Rokita: Odrzania: Podróż po Ziemiach Odzyskanych, Kraków: Znak Literanova 2023, 312 S., e-book, ISBN 978-83-240-9647-3, POL 38,49
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Rezension von:
Izabela Paszko
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Empfohlene Zitierweise:
Izabela Paszko: Rezension von: Zbigniew Rokita: Odrzania: Podróż po Ziemiach Odzyskanych, Kraków: Znak Literanova 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 12 [15.12.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/12/39665.html


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Zbigniew Rokita: Odrzania: Podróż po Ziemiach Odzyskanych

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Die Geschichte der europäischen Grenzgebiete interessiert Forscherinnen und Forscher schon seit vielen Jahrzehnten. Was Mittel- und Osteuropa betrifft, gab die große Osterweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 den Anstoß für neue wissenschaftliche Überlegungen zu den historischen und politischen Bedingungen nachbarschaftlicher Beziehungen. In wirtschaftlicher Hinsicht ermöglichte die Osterweiterung eine umfassende Zusammenarbeit zwischen den Nachbarregionen. Im kulturellen Kontext hat sich die Kategorie Identität erweitert, und die Ansätze zur Selbstidentifikation haben sich polarisiert. Auf der einen Seite wurden die Bürgerinnen und Bürger der Grenzregionen Teil einer größeren, transnationalen Gemeinschaft, auf der anderen gewann die Verwurzelung in der lokalen Gemeinschaft an Bedeutung, wie sie in Traditionen und Sprache zum Ausdruck kommt. Grenzlandschaften sind ebenso interessante wie vielfältige Lebenswelten, die über Jahrhunderte hinweg entstanden sind und sich eindeutigen Kategorien entziehen. 

Das Buch von Zbigniew Rokita befasst sich mit den Grenzgebieten, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen fielen (Rokita bezieht sich ausdrücklich auf die Teilung Deutschlands). Schon die von der kommunistischen Partei propagierte Bezeichnung "Ziemie Odzyskane", also "Wiedergewonnene Gebiete", ist problematisch, und der Autor schlägt eher "Erhaltene Gebiete" vor (9). Zunächst zeichnet Rokita die Unterschiede zwischen "Odrzania" ("Oder-Land") und den Gebieten in Zentralpolen nach: "Wiślania" ("Weichsel-Land"). Darüber hinaus liefert der Autor überzeugende Argumente für die Einzigartigkeit von "Odrzania" und seiner heutigen Bewohnerinnen und Bewohner. Diese hätten den Raum "zähmen" mussten, den die zehn Millionen Menschen hinterlassen haben, die aus der Landschaft "Odrzania" verschwunden (zniknęli) sind (10).

"Odrzania" ist nicht die erste Publikation von Rokita, in der sich der Publizist mit einem Thema auseinandersetzt, das mit der unklaren regionalen Identität zusammenhängt. In seinem letzten Buch suchte der 1989 in Gleiwitz geborene Rokita nach Antworten auf Fragen zu seiner eigenen Identität und der Geschichte Oberschlesiens. [1] "Odrzania" setzt in gewisser Weise die Wanderungen des Autors in den "postdeutschen" - oder polnisch: "poniemieckie" - Gebieten und die Selbstreflexion über den Platz des Einzelnen in historischen Prozessen fort. Das Buch umfasst 56 meist kurze Kapitel, in denen sich die spezifischen Themen widerspiegeln, die der Autor mit bestimmten Orten verbindet. 

Für dieses Buch besuchte Rokita Wrocław (Breslau), Gorzów (Landsberg an der Warthe, Słupsk (Stolp), Szczecin (Stettin) und Gdańsk (Danzig), wo er mit Historikern, Regionalwissenschaftlern und Personen sprach, die sich mit der Bewahrung der Erinnerung an die Geschichte und die Bewohner dieser Gebiete aus der Zeit vor 1945 beschäftigen. Im Gegensatz zu Karolina Kuszyk konzentriert sich Rokita nicht auf individuelle Geschichten, sondern rekonstruiert die historischen Prozesse, die dort den heutigen soziokulturellen Bedingungen geführt haben. [2] Auf diese Weise erscheint die Landschaft "Odrzania" weder als schön noch als polnisch - so wie Rokita die zeitgenössische Stadtlandschaft als "nach deutschem Recht errichtete polnische Blocksiedlung" beschreibt (122). 

Besonders interessant ist der Teil des Buches, in dem Rokita die "Polonisierung" der Geschichte der ehemals deutschen Gebiete untersucht. Der Autor beschreibt die Bemühungen der kommunistischen Behörden, den Bewohnern (und den Polen überall) ein Bewusstsein für die piastischen Ursprünge dieser Gebiete zu vermitteln. Darüber hinaus seziert Rokita den Mythos der sogenannten Schlacht von Cedynia, der im Grunde genommen von den Geschichtsforschern erfunden wurde, um die Botschaft von der alten Abstammung der Polen und ihrer großen Zeit zu verstärken (149). 

Ein wichtiges Element des Buches ist der Kommentar des Autors zur zeitgenössischen Dimension der Überreste der Vergangenheit. Rokita fragt nach den Fördermitteln für die Erhaltung historischer Gebäude in Westpolen, die deutlich geringer ausfallen als beispielsweise die in der Region Kleinpolen. Der Autor spricht mit Menschen, die sich um verlassene deutsche Grabsteine kümmern, die in vielen Fällen als Baumaterial für Treppen oder Zaunfundamente genutzt wurden. Trotz des emotional aufgeladenen Themas geht es Rokita in seinem Buch nicht um moralische und ethische Fragen oder - wie bei Karolina Kuszyk - um die emotionale Einstellung zum materiellen "postdeutschen" Erbe. Während "Odrzania" für ein internationales Publikum eine lesenswerte Schilderung einer Grenzregion in Mitteleuropa sein mag, regt das Buch polnische und deutsche Leserinnern und Leser dazu an, über das Gefühl der Zugehörigkeit und die nationale Identität zu reflektieren. 

Das Spektrum der potenziellen Adressaten von "Odrzania" ist relativ breit. Für diejenigen, die eine familiengeschichtliche Verbindung zum Gebiet "Odrzania" haben, ist es sicherlich eine Pflichtlektüre. Studierende der Geschichts- und Geisteswissenschaften werden in diesem Buch viel über soziale Dynamik und historische Prozesse erfahren. Für fortgeschrittene Historikerinnen und Historiker hingegen kann Rokitas Reportage unbewusste geopolitische Beziehungen und zeitgenössische Kontexte aufdecken, die die deutsch-polnische Geschichte überlagern. "Odrzania" gehört zu den Büchern, die auch von Expertinnen und Experten mit Gewinn gelesen werden können, obwohl ein wissenschaftlicher Apparat fehlt. Die Lektüre kann sie dazu ermutigen, häufiger auch zu verlässlichen Reportagen zu greifen, die ihnen überraschende Perspektiven eröffnen. 

 


Anmerkungen:

[1] Vgl. Zbigniew Rokita: Kajś. Opowieść o Górnym Śląsku, Wołowiec 2020. 

[2] Vgl. Karolina Kuszyk: Poniemieckie, Wołowiec 2019.

Izabela Paszko